15. Tag (28. September 2020): Von Grafhorst nach Wustrow

Tagesdaten: 93,24 Km

Nun ist der Regen also endgültig wieder vorbei. Der Himmel ist noch bewölkt, aber es lockert immer mal auf. Die Temperaturen sind etwa frischer geworden und steigen jetzt nur noch auf etwa 16 Grad und sollen auch in den nächsten Tagen nicht mehr über 18 Grad hinausgehen. Es soll aber wieder sonniger werden. Also, nach wie vor herrliches Radfahrwetter. Nach dem letzten Frühstück im Hotel Krüger geht es los. Mein Ziel ist heute Wustrow im Wendland. Hier habe ich schon vor einigen Tagen telefonisch vor gebucht. Damit liegen heute etwa 95 Kilometer vor mir. Die Strecke, die vor mir liegt erscheint wenig anspruchsvoll. Sie hat wenig Steigungen und verläuft überwiegend auf asphaltierten Wegen oder Nebenstraßen.

Von Grafhorst nach Brome

Zunächst fahre ich durch den Naturpark Drömling über Buchhorst, einem Ortsteil von Oebisfelde, und Jahrstedt. Hier verlasse ich dann den Drömling und der Weg führt nun wieder einmal an die Grenze nach Niedersachsen. An der Grenze von Niedersachsen werde ich mal wieder von einem Grenzlehrpfad empfangen. Dieser interessiert mich nach so vielen Grenzlehrpfaden nun nicht mehr sonderlich. Mehr interessiert mich dagegen der Hinweis auf die Gedenkstätte für Kurt Lichtenstein, den Michael Cramer im bikeline als Weggefährten des späteren langjährigen SPD-Fraktionsvorsitzenden im Deutschen Bundestag, Herbert Wehner, bezeichnet. Ich folge dem Hinweis und und gelange zu der Gedenkstätte, einem schlichten Holzkreuz mit Namen und Todesdaten und einer Tafel mit den Lebensdaten von Kurt Lichtenstein und der Beschreibung des Vorfalls, der zu seinem Tod führte. Kurz gesagt war Kurt Lichtenstein als Kommunist sozialisiert worden und wurde nach 1945 in der britischen Besatzungszone und später dann in der Bundesrepublik Chefredakteur mehrerer kommunistischer Zeitungen und saß auch für die KPD von 1947-1950 im Nordrhein-Westfälischen Landtag. Er überwarf sich wohl mit der KPD, wurde ausgeschlossen und trat 1954 in die SPD ein. Ab 1958 war er dann Redakteur bei der Westfälischen Rundschau. In dieser Funktion befand er sich Anfang Oktober 1961 auf einer Reportagereise entlang der Innerdeutschen Grenze. Als er mit den Frauen auf dem Kartoffelfeld jenseits der Grenze ins Gespräch kommen wollte übertritt er die Grenze, die hier offensichtlich noch nicht gesichert war. Obwohl die Frauen versuchten ihn zu warnen, lief er etwa 20 bis 30 Meter auf DDR-Gebiet. Dabei wurde er von Posten der DDR-Grenztruppen beobachtet, die ihn zum Anhalten aufforderten. Lichtenstein lief dann zurück und hielt auch nicht nach Warnschüssen an. Das wurde ihm zum Verhängnis. Einer der Posten schoss danach gezielt und verletzte Lichtenstein schwer. Man leistete ihm zwar hernach medizinische Hilfe und brachte ihn in das Krankenhaus in Klötze, dort verstarb Lichtenstein dann aber bald nach der Einlieferung. Diese tragische Geschichte zeigt aber auch wie unbedarft man im Jahr der Grenzsperrung selbst als jemand mit politischer Einschätzungsfähigkeit mit einer Situation umgehen konnte, in der man sich offensichtlich noch kaum vorstellen konnte, beim Übertritt über eine ungesicherte Grenze erschossen zu werden. Er war das erste Todesopfer an der Grenze nach dem Mauerbau in Berlin.

Auf der Weiterfahrt komme ich dann durch die beiden Nachbardörfer Zicherie und Böckwitz, die eigentlich zusammengewachsen waren, aber schon seit langer Zeit zu unterschiedlichen Ländern gehörten. Zicherie zum Königreich Hannover und Böckwitz zum Königreich Preußen. Aber all dies riss die Bewohner beider Dörfer, die seit Generationen durch verwandtschaftliche Beziehungen verbunden, waren nicht auseinander. Dies änderte sich erst 1945 als Böckwitz zur Ostzone und Zicherie zur Westzone kam. Die Dörfer wurden dann 1952 durch einen Bretterverschlag gespalten Später dann trennten Stacheldraht und Zäune die beiden Ortschaften und 1979 hielt die DDR es auch noch für notwendig nun auch hier  eine Betonsperrmauer zu bauen. Davon zeugt übrigens der Grenzlehrpfad, den ich vorhin passiert habe.

Über Steimke komme in Sachsen-Anhalt komme ich dann nach Brome in Niedersachsen. Beim ausgewiesenen Lidl versorge ich mich erst einmal mit Proviant, heute Laugenbrötchen und Bananen, denn ich verspüre langsam Hunger. Dann geht es aber zur Burg bzw. zu dem, was davon noch übrig ist. Burg Brome ist eine teilweise gut erhaltene bzw. restaurierte, mittelalterliche Wasserburg. Die Burg Brome war zu unterschiedlichen Zeiten meist im Besitz der beiden Almärker Adelsfamilien von Knesebeck und von Schulenburg. Nach dem 30-jährigen Krieg waren es wohl endgültig die von Schulenburgs, die hier die Oberhand behielten. 2001 erwarb der Flecken Brome die Burg von der Familie von der Schulenburg. Die jahrhundertealte Pfahlfundamentgründung der Burg war abgängig. 2009 bis 2014 wurde die Burg grundlegend saniert und im September 2014 mit erneuerter Museumsausstellung wiedereröffnet. Die als Heimatmuseum genutzte denkmalgeschützte Burg mit dem Schwerpunkt auf ländliche Selbstversorgung und altes Handwerk hat eine regionale touristische Bedeutung. Natürlich ist sie heute geschlossen. Auch hier fordert Corona seinen Tribut. So bleibt mir nichts anderes übrig als mich vor der Burg auf eine Bank zu setzen und mich meinem Proviant zu widmen.

Von Brome nach Wustrow

Nach der Mittagspause an der Burg geht es weiter. Es liegen noch etwa 55 Kilometer vor mir. Der Weg führt nun durch die nordöstliche Altmark in Sachsen-Anhalt. Die Landschaft ist weitgehend flach. Die höchsten Erhebungen erreichen hier gerade mal 100Meter, sind also vom Boden aus vielleicht mal 20 bis 50 Meter. Sie haben aber doch so bedeutende Namen wie Kahnberg, Petersberg oder Wolfsberg. Auch über Orte gibt es wenig zu berichten. Ich fahre durch das Dorf Jübar und dann nach etwa 15 Kilometern nach Diesdorf, sicher der bedeutendste Ort des heutigen Nachmittags. Hier gibt es ein Freilichtmuseum und vor allem eine für die etwas über 2.000 Einwohner des Dorfes viel zu große Backsteinkirche. Die Größe der Bachsteinkirche erklärt sich erst, wenn man weiß, dass es sich um eine ehemalige Klosterkirche handelt.

Das Kloster Diesdorf, ursprünglich Kloster Marienwerder, war ein Stift der Augustiner-Chorherren, das 1161 gegründet wurde. Die Stiftkirche wurde ab 1182 bis 1230 von Jerichower Baumeistern im spätromanischen Stil aus Backstein errichtet, etwa zeitgleich mit der Klosterkirche Arendsee. Seit dem Ende des 13. Jahrhunderts lebten Augustiner-Chorfrauen hier. Spätestens 1541 wurde die Reformation eingeführt, 1551 wurde es in ein evangelisches Damenstift umgewandelt. Die Kirche wurde Pfarrkirche der evangelischen Gemeinde. 1810 wurde das Stift im damaligen Königreich Westphalen aufgelöst. Die Stiftskirche St. Maria und Crucis (Maria und dem Kreuz geweiht) ist heute die Pfarrkirche der evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde Diesdorf im Kirchenkreis Salzwedel der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland. Sie wird der Backsteinromanik zugerechnet und liegt an der Straße der Romanik. Als ich an der Kirche vorbeifahre, habe ich Glück, die Tür steht offen und ein Mann trägt landwirtschaftliche Früchte hinein, die an den Schmuck für das Erntedankfest erinnern. Ich frage ihn, ob ich einen Blick hineinwerfen dürfe. Er scheint zwar nicht begeistert zu sein, gesteht mir aber „höchstens fünf Minuten“ zu, weil er gleich wieder weg müsse. So gelingen mir immerhin einige Fotos auch vom Inneren des Bauwerks. Von den weiteren Gebäuden des Klosters sind nur noch einige Wirtschaftsgebäude mehr oder weniger erhalten und die ehemalige Klostermauer.

Der Rest des Nachmittags ist schnell berichtet. Über zahlreiche Dörfer in der Altmark, deren regionstypische alte Feldsteinkirchen ich fotografiere, fahre ich dann bei Luckau über die Grenze nach Niedersachsen. Mein heutiges Quartier, die Villa Wendland, liegt außerhalb jeder Ortschaft zwei bis drei Kilometer vor Wustrow. Es ist die alte Villa eines Direktors eines früheren, längst vergessenen Kaliwerks. Heute ist Kathrin Grasnick Besitzerin der Villa und verpachtet hier an Pensionsgäste. Die Pension strahlt noch ihren alten Charme aus. Es ist wenig renoviert. Kathrin Grasnick kam in den 70er Jahren nach ihrem Abitur hier ins Wendland, um gegen das geplante Atommülllager zu protestieren. Sie ist dann hier geblieben. Ich frage sie wie sie denn den heutigen Tag erlebt hat. Hat doch gerade heute die Bundesgesellschaft für Endlagerung ihren Zwischenbericht zur Suche und Auswahl eines Standortes für ein Endlager für hochradioaktive Abfälle (Standortauswahlgesetz – StandAG) vorgestellt. Die BGE kommt zu dem Ergebnis, dass der Salzstock Gorleben nach Anwendung der geowissenschaftlichen Abwägungskriterien gemäß § 24 StandAG kein Teilgebiet geworden ist. Damit greift die Regelung des § 36 Abs. 1 S. 5 Nr. 1 StandAG wonach der Salzstock Gorleben aus dem Verfahren ausscheidet. Der Salzstock Gorleben wird daher nicht bei den weiteren Arbeiten der BGE zu den Vorschlägen über die Standortregionen betrachtet.

Kathrin Grasnick erzählt mir, dass sie heute morgen daraufhin mit FreundInnen Sekt getrunken habe. Allerdings glaubt sie nicht daran, dass damit Gorleben als Endlager erledigt sei. Man habe schon viel zu viel Geld in Gorleben investiert. Ähnliches sagt übrigens auch – sicher mit einer anderen Intention – inzwischen Markus Söder, weil er verhindern will, dass jemand auf die Idee kommt, das Atommüllendlager eventuell in Bayern zu bauen, wo sehr viele Standorte nach geowissenschaftlichen Kriterien als geeignet angesehen werden.

Den Abend verbringe ich auf meinem Zimmer, Frau Grasnick verkauft mir noch zwei Flaschen Bier und für mein Abendessen habe ich in weiser Voraussicht selbst gesorgt.

 

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