Wieder ein schöner Tag. Ich mache mir mein Frühstück auf der Terrasse und genieße schon mal die Sonne und den Blick in die Natur. Danach packe ich meine Sachen zusammen. Ich lerne eine Nachbarin kennen, die so etwa mein Alter hat und hier wohl ihren Sommer verbringt. Die Kommunikation ist zwar mühsam, aber mit Englisch schaffen wir es dann doch, einige Informationen auszutauschen. Sie lebt ansonsten in Warschau und will natürlich von mir wissen, woher ich komme. Nachdem wir das geklärt haben, verstaue ich mein Gepäck wieder auf dem Fahrrad und mache mich auf den Weg. Heute ist meine vorletzte Etappe, bevor ich morgen in Przemysl mein Ziel für diese Tour erreiche. Der Green Velo führt übrigens hier direkt durch Stara Huta und so habe ich kein Problem, den rechten Weg wiederzufinden.
Nach etwa 10 Kilometern entdecke ich mehr zufällig eine alte Holzkirche in dem Dorf Nowe Brusno. Ich wusste zwar, dass ich heute an einer solchen Holzkirche noch vorbeikomme, aber die steht in Radruz rund 15 Kilometer von hier noch entfernt. Aber auch die Kirche hier in Neu-Brusno, eine ehemalige griechisch-katholische Kirche, die wohl im Jahre 1713 im errichtet wurde, gehört damit zu den griechisch-katholischen Holzkirchen der Karpatenregion. Diese Diese Art der katholischen Kirchen war mir bisher völlig unbekannt. Als katholische Ostkirchen (auch unierte Kirchen oder mit Rom unierte Kirchen) werden die 23 Teilkirchen eigenen Rechts der römisch-katholischen Kirche bezeichnet, die in ostkirchlicher Tradition stehen. Durch ihre östlichen („orientalischen“) Riten stehen sie in ihrer Tradition und hierarchischen Verfasstheit den orthodoxen und altorientalischen Ostkirchen nahe, sind aber von diesen streng zu unterscheiden. Sie erkennen den Jurisdiktionsprimat des Papstes an und stehen untereinander sowie mit der lateinischen Kirche in Glaubens-, Gebets- und Sakramentengemeinschaft. In nahezu allen ostkirchlichen Traditionen gibt es katholische Ostkirchen. Gegenüber ihren orthodoxen und altorientalischen Pendants bilden sie meist nur eine Minderheit. So ist auch die griechisch-katholische Kirche in der Ukraine eine Minderheit, der insbesondere die Westukrainer angehörten, die ja auch hier in der westlichen Region von Wolhynien lebten. Sie konnten aber in den westlichen Regionen und Gemeinden, in denen Ukrainer lebten, durchaus in der Mehrheit sein.
Die griechisch-katholischen Holzkirchen sind hier im Karpatenvorland aber auch in der Woiwodschaft Kleinpolen und in der Westukraine daher verbreitet. 16 von ihnen wurden 2013 in die Liste des UNESCO-Welterbes aufgenommen. Die Kirche hier in Nowe Brusno gehört allerdings nicht dazu, deshalb ist sie mir bisher wohl auch noch nicht untergekommen. Diese griechisch-katholischen Holzkirchen sprechen auch dafür, dass hier in der Vergangenheit ukrainisch stämmige Menschen gelebt haben. So drängt sich natürlich die Frage auf, wo diese Menschen geblieben sind.
Als Folge des Zweiten Weltkrieges war es zur Westverschiebung Polens gekommen. Darüber hinaus war das von der deutschen Besatzung befreite Polen in den Machtbereich der Sowjetunion geraten und somit ab 1945 der Stalinisierung ausgesetzt. So verfolgte Josef Stalin nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa zur Vorbeugung künftiger ethnischer Konflikte eine ethnische Homogenisierung seiner Satellitenstaaten. Dem entsprach das Vorhaben der kommunistischen polnischen Nachkriegsregierung, auch in Polen einen ethnisch homogenen Nationalstaat zu kreieren. Denn mit diesen ethnischen Konflikten hatte man schon leidvolle aber auch selbstverschuldete Erfahrungen machen müssen.
Durch Verträge zwischen Polen und den angrenzenden sowjetischen Unionsrepubliken Weißrussland und Ukraine wurde ein Bevölkerungsaustausch vereinbart. Dieser sollte formal freiwillig geschehen, tatsächlich fanden diese Umsiedlungen jedoch zu weiten Teilen unter Zwang statt. Die Bezeichnung der Betroffenen als „Repatrianten“ verschleierte, dass diese aus einem Gebiet vertrieben wurden, in dem ihre Vorfahren seit Jahrhunderten gelebt hatten, und eben nicht in die Heimat zurückgeführt wurden.
Ukrainer sollten aus Polen in die Sowjetunion umsiedeln, zum Ausgleich für Polen, die aus den von der Sowjetunion annektierten ostpolnischen Gebieten nach Westen ziehen mussten. Nach Ablauf der Abkommen verblieben innerhalb der neuen Grenzen Polens im Südosten des Landes jedoch zehntausende Ukrainer in direkter Grenzlage zur Sowjetunion. Diese Region befand sich zudem in einem Zustand des Bürgerkrieges. Die nationalistische Ukrainische Aufständische Armee (UPA) kämpfte unter ständigem Wechsel ihrer Bündnispartner seit 1943 für die Errichtung eines nicht-kommunistischen ukrainischen Nationalstaates und hatte sich dabei zunehmend radikalisiert. Sie wurde sowohl von polnisch-kommunistischer als auch von sowjetischer Seite bekämpft. Sie hatte aber auch bei Massakern zwischen 1942 und 1944 Zehntausende Polen hier in Wolhynien auf brutalste Weise umgebracht, um ihrem Ziel näher zu kommen, einen eigenen ukrainischen Staat zu gründen. Anfang April 1947 zerstörte die UPA die Eisenbahnbrücke von Stefkowa, um die Umsiedlung von Ukrainern aus Polen nach der Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik zu behindern. Zehntausende von Ukrainern wurden von Truppen des NKWD verhaftet und in Arbeitslager in Sibirien deportiert, weil sie verdächtigt wurden, Mitglied der UPA oder der Organisation Ukrainischer Nationalisten zu sein, während man ihre Heimatorte zerstörte.
Nach dem aus polnischer Sicht begrenzten Erfolg der Verdrängung der Ukrainer in die Sowjetunion plante die kommunistische polnische Regierung die Lösung der ukrainischen Frage innerhalb des eigenen Staatsgebietes. Am 11. April 1947 bestätigte das Politbüro des Zentralkomitees der Polnischen Arbeiterpartei den Plan der Umsiedlungsaktion. Die Durchführung der Aktion Weichsel begann am 28. April 1947 um vier Uhr morgens. Sie verlief immer nach dem gleichen Muster. Nachdem ein Dorf von der polnischen Armee umstellt worden war, hatten die Bewohner wenige Stunden Zeit, um das Notwendigste zu packen. Anschließend wurden sie in bewachten Zügen deportiert. Personen, die in Verdacht geraten waren, mit dem ukrainischen Untergrund zu kooperieren (insbesondere Soldaten der Polnischen Heimatarmee, Kohlenarbeiter und Deutsche), wurden im ehemaligen Außenlager des KZ Auschwitz-Birkenau in Jaworzno inhaftiert. Annähernd 4.000 Personen, darunter auch Frauen und Kinder, wurden hier infolge der Aktion Weichsel untergebracht. Die UPA versuchte teilweise, die Transporte zu verhindern.
Die Aktion Weichsel dauerte genau drei Monate und war am 28. Juli 1947 beendet. Einher mit den Zwangsumsiedlungen ging in diesen Gebieten der Kampf gegen die ukrainischen Aufständischen der UPA. Im Zuge der Aktion Weichsel wurden etwa 150.000 Ukrainer deportiert. Einziges Kriterium dabei war ihre Nationalität. Betroffen waren somit auch Ukrainer, die pro-kommunistisch waren oder als Soldaten der polnischen Volksarmee gedient hatten. Nach dem Ende der Aktion Weichsel wurden verschiedene administrative Hürden geschaffen, um die Rückkehr der Ukrainer in ihre angestammten Siedlungsgebiete zu verhindern. In einem Dekret vom 27. September 1947 wurden die Ukrainer ihrer alten Besitztümer enteignet. Durch ein weiteres Dekret vom 28. August 1949 gingen die griechisch-katholischen Kirchen in staatlichen Besitz über.
Soviel zum Hintergrund, warum es für die griechisch-katholischen Holzkirchen hier in Wolhynien keine Gläubigen mehr gibt. Nun wissen wir auch, warum 1947 die Kirche in Nowe Brusne von der Staatskasse übernommen wurde, ungenutzt blieb und verfiel. 1962 wurden die zerstörte Ikonostase und die Überreste der Ausrüstung in Museen in Łańcut und Przemyśl gesichert. 1980 drohte der Kirche der Abriss. 1990 wurden die Wände mit Stempeln und Böcken gestützt. 1994 wurde die Sanierung mangels Konzept eingestellt. Im Jahr 2014 wurde das Gebäude vom Museum der Grenzlande in Lubaczów übernommen. In den Jahren 2014-2019 wurde eine Renovierung durchgeführt, einschließlich der vollständigen Erhaltung der Kirche.
Ich schaue mich ein wenig auf dem Gelände um. Leider ist die Kirche verschlossen und man findet auch keinen Hinweis, ob und wie man in die Kirche hineinkäme. Unbekannt ist mir auch geblieben, ob die Kirche überhaupt wieder eine Innenausstattung hat. Unweit der Kirche gibt es noch den alten griechisch-katholischen Friedhof, der wohl inzwischen auch wieder gepflegt wird. Es ist erfreulich, dass man in Polen inzwischen gemerkt hat, welche Schätze sich hier finden und dass man an ihrer Erhaltung und und Wiederherstellung arbeitet.
Die Strecke führt nun weiter durch den Kurort Horyniec-Zdroj bis nach Radurz sehr nah an der ukrainischen Grenze. Hier gelange ich zu der St.-Paraskewi-Kirche, die eine der Holzkirchen ist, die zum grenzübergreifenden UNESCO-Welterbe „Holzkirchen der Karpatenregion“ gehört. Sie ist ebenso wie die Kirche in Nowe Brusno der Märtyrerin Paraskewi von Iconium geweiht. Paraskeva Pyatnitsa war eine junge Christin, die unter dem römischen Kaiser Diokletian gemartert und schließlich in Ikonion (Türkei) enthauptet wurde. Sie gilt als Schutzheilige der Frauenarbeit und des Handels. Die Kirche, die ich äußerlich zwar nicht so attraktiv finde wie die mit Kuppeln und zwiebelförmigen Helmen ausgestattete Kirche in Nowe Brusno, ist zugänglich. Davor ist sogar eine Touristeninformation, in der man zahlreiche Informationen bekommt und auch das ein oder andere schriftlich zu den Holzkirchen erhalten kann. Den Eintritt von 10 PLN zahle ich gerne und obwohl die nächste Führung erst um 12 Uhr sein soll, erklärt der Führer sich bereit, mir die Kirche jetzt schon zu öffnen. Seine Erklärungen werden mir ohnehin wenig helfen, da er nur polnisch spricht. Aber ich freue mich über sein Entgegenkommen, denn es ist erst 11:30 Uhr. Aber ich habe auch den Eindruck, dass hier kein großer Andrang herrscht und man sich über jeden Besucher freut.
Die Kirche liegt auf einer Anhöhe oberhalb eines Baches. Die Grenze zur Ukraine ist nur etwa 500 Meter entfernt. Die Anlage umfasst die Kirche, den hölzernen Glockenturm, das steinerne Haus des Kantors und die umgebende Steinmauer mit einer Holzbedachung. Daneben liegt ein alter ruthenischer Friedhof. Im Inneren der Kirche ist insbesondere die Ikonostase beeindruckend. Ikonostase ist eine mit Ikonen geschmückte Wand mit drei Türen, die in orthodoxen Kirchenbauten zwischen dem inneren Kirchenschiff und dem Altarraum steht. Ikonostasen gehören zur Tradition der Ostkirchen. Ich schaue mich um und bin doch sehr beeindruckt. Auch auf den Holzwänden befinden sich noch Wandmalereien, die ich aber nur schwer erkennen kann. Insgesamt merke ich aber vor allem, dass ich diese Holzkirchen zwar sehr beeindruckend finde, mich aber mit der orthodoxen Liturgie noch überhaupt nicht auskenne. Nachdem ich mir alles angeschaut habe, radle ich erst einmal weiter.
Nach weiteren etwa 15 Kilometern kann ich aus der Ferne den Grenzübergang zur Budomierz/Hrushiv sehen, vor dem sich auch längere Autoschlangen gebildet haben. Als ich die Straße, die zum Grenzübergang führt, erreiche, steht an der Seite ein Mittelklassewagen mit ukrainischem Kennzeichen, an dem ein junger Mann steht, eine Zigarette raucht und in Richtung Ukraine schaut. Als ich näher komme, steigt er in sein Auto ein und fährt auf der Straße aber in Richtung Westen davon. Als ich die Straße überquere sehe ich in einem kleinen Waldstück etwa ein halbe Dutzend Transporter mit ukrainischem Kennzeichen, die auf irgendetwas zu warten scheinen. Hier bietet sich natürlich viel Raum für Spekulationen. Ich will es einfach bei der Beobachtung lassen.
Kurze Zeit später macht der Green Velo einen Bogen, den ich meine abkürzen zu können, weil eine ausgewiesene Alternativstrecke durch ein kleines Dorf kürzer ist und weil ich nicht erkennen kann, was mir die längere Strecke des Green Velo bringt. Hinterher wusste ich es, weil die Abkürzung durch ein sumpfigeres Gebiet mit riesigen Pfützen auf dem Weg führte und meine schöne Reinigung des Fahrrades in Zamosc damit wieder zunichte gemacht wurde. Da musste ich nun durch. Nach einigen weiteren Kilometern kam ich dann an einer weiteren griechisch katholischen Holzkirche vorbei, die aber keine neuen Besonderheiten aufwies und auch verschlossen war. Etwas weiter erreichte ich den Ort Wielkie Oczy, was soviel wie Großen Augen heißt, wie mich Darek, nachdem ich es in meinem Status falsch geschrieben hatte, freundlicherweise aufklärte. Ich war bisher nicht auf die Idee gekommen, den Versuch zu unternehmen Namen von Städten zu übersetzen, aber es scheint sich im Polnischen schon zu lohnen.
Was mir in dem Ort aber gleich auffiel war ein recht großes restauriertes Gebäude, bei dem ich gleich die Assoziation Synagoge hatte. Als ich mir das Gebäude näher betrachtete fand ich auch eine Steintafel mit Erläuterungen auf polnisch, hebräisch und englisch. Übersetzt hieß die Inschrift : „Synagoge der Jüdischen Gemeinde in Großen Augen. Errichtet 1910. 1927 nach den Schäden des Ersten Weltkrieges wiederaufgebaut und 2013 von der Großen Augen-Gemeinschaft renoviert. Seit dem 17. Jahrhundert lebten Juden in Großen Augen und trugen wesentlich zur kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklung der Stadt bei. Der Zweite Weltkrieg beendete ihre Existenz hier. Möge das Gedenken an diejenigen gesegnet sein, die hier gebetet haben und während des Holocaust ermordet wurden. – Großen Augen Gemeinschaft – Stiftung zur Erhaltung des Jüdischen Erbes in Polen – Die Großen Augen Stiftung 2013“ Ich finde das eine sehr schöne Geste, die hier durch den Ort zum Ausdruck kommt. In der ehemaligen Synagoge ist heute die Bibliothek des Ortes untergebracht.
Nun geht es die letzten etwa 10 Kilometer bis nach Korczowa, wo ich im Motel Panorama direkt am Übergang nach Krakovets meine Übernachtung gebucht hatte. Es ist der Grenzübergang auf der E 40. Das ist die Autobahn die von Calais am Ärmelkanal bis nach Ridder nahe der Grenze zu Russland in Kasachstan. Die E 40 ist mit mehr als 8.000 Kilometern Länge die längste Europastraße. Das Motel ist einfach aber in Ordnung. Es gibt auch Abendessen. Ich bin allerdings der einzige Gast.
Tagesstrecke: 66,07 Km; 13,28 Km/h; 424 Hm