Ich habe nach der anstrengenden Fahrt sehr gut geschlafen. Es hätte wie immer etwas länger sein können, aber auf diese Weise schaffe ich es noch, meinen gestrigen Bricht vor dem Frühstück im Entwurf zu schreiben. Vom Frühstück bin ich begeistert und es kompensiert meine Frustration von gestern Abend. Es gibt eigentlich alles, was ein Frühstück so auszeichnet. Insbesondere die verschiedenen Wurst- und Käsesorten, die Pfannkuchen, die Pasteten und die Salate sind ein Schmaus und ich erinnere mich, dass ich schon auf meinen früheren Reisen von den polnischen Hotelfrühstücken meistens begeistert war. Es besteht nie die Gefahr, dass man zu wenig bekommt, sondern nur die Gefahr, dass man zu viel isst.
Wieder liegen heute etwa 100 Kilometer vor mir. Das Wetter ist etwas angenehmer als gestern, weil die Temperaturen sich so bei 21 Grad einpendeln werden. Der Himmel ist wie meist in den letzten Tagen heiter bis wolkig. Allerdings weht eine steife Briese von Westen. Das kann dann schon auf 100 Kilometer Probleme bereiten, zumal heute doch einige Schotterstrecken und Waldwege vor mir liegen. In die Stadt Suwalki komme ich leider gar nicht mehr. Auf meiner gestrigen Abendtour machte sie einen ganz ansehnlichen Eindruck auch hier viele Kirchen, die Häuser lediglich zweistöckig. Suwalki scheint auch Garnisonsstadt zu sein. Große Kasernenkomplexe mit historisierenden Ziegelgebäuden von Anfang des letzten Jahrhunderts finden sich am Stadtrand. Die sogenannte Suwalki-Lücke gilt ja seit der Krim-Krise bei der Nato als das sensibelste Gebiet, weil hier ein nur 100 Kilometer langer Grenzstreifen zwischen den Nato-Staaten Polen und Litauen verläuft, der zwischen dem Kalingrader Gebiet Russlands und Weißrussland liegt. Ich habe heute andere Sorgen.
Der Weg aus Suwalki hinaus führt auf einem neuen und sehr guten Radweg. Nach einigen Kilometern gelange ich aber an eine riesige Baustelle für ein Autobahnkreuz oder Ähnliches. Der Verkehr verläuft hier einspurig und wird mit Ampeln reguliert. Unterwegs sind viele LKW. Es sind zwei Stellen mit Ampelschaltung. Für diesen Baustellenverkehr bin ich natürlich ein Verkehrshindernis. Bei der ersten Ampel fahre ich als letzter los und hindere natürlich dadurch den Gegenverkehr, weil sie erst abfahren können, wenn ich durch bin, obwohl die Ampel schon auf grün steht. Bei der zweiten Ampel schlängle ich mich in die Poolposition und fahre, nachdem der Gegenverkehr durch ist, die Ampel aber noch auf Rot steht, los, um den hinter mir fahrenden Verkehr nicht zu sehr aufzuhalten. Das gelingt auch ganz gut. Ich bekomme auch keine Zornesausbrüche der polnischen Autofahrer zu spüren. Überhaupt habe ich den Eindruck, dass sie recht rücksichtsvoll fahren.
Hinderlich ist der Gegenwind. So komme ich nur mit einer recht niedrigen Geschwindigkeit voran. Nach 35 Kilometern muss ich von der Bundestraße abbiegen und werde über Nebenstraßen, Schotterwege, Feld- und Waldwege weitergeführt, die zum Teil auch nicht asphaltiert sind. Vor dieser Perspektive hatte ich schon etwas Bammel, es erweist sich jedoch weniger schlimm als erwartet. Dennoch wird mein Gleichgewichtsorgan wieder auf eine härtere Probe gestellt und ich bewundere auch die Qualität meiner Fahrradtaschen, die diese Gerüttel ohne Probleme wegstecken.
Inzwischen bin ich auch in der Woiwodschaft warminsko marzurskie (auf Deutsch Ermland-Masuren) angelangt, was dem früheren südlichen Teil Ostpreußens entspricht. Die Masuren sind ja bei uns sehr Mythen umwoben, was sicher an der großen Zahl der aus dem damaligen Ostpreußen vertriebenen Deutschen liegt, die um die verlorene Heimat trauern. Landschaftlich sind die Masuren aber nichts anderes als die anderen Moränenlandschaften wie die Mecklenburgische Seenplatte oder auch die viel größere Finnische Seenplatte. Wie alle diese Landschaften kann die Kombination aus Seen, Wäldern und Hügeln sehr reizvoll sein. Je mehr ich in die Masuren eindringe, umso mehr ergreift aber auch mich eine Faszination. Die Masuren wirken einfach noch ursprünglicher und teilweise wilder als andere vergleichbare Seengebiete. Sie haben aber andererseits auch wieder große Weiten. So sind die Felder hier offensichtlich noch genossenschaftlich bewirtschaftet und teilweise kilometerlang, was der Landschaft auch eine große Weite verleiht.
Mein heutiges Ziel ist der kleine Ort Sztynort früher Steinort. Warum ich gerade dahin will, liegt vor allem daran, dass ich schon seit vielen Jahren immer mal wieder mich mit dem Leben und Wirken von Marion Dönhoff beschäftige, der Grande Dame des bundesdeutschen Nachkriegsjournalismus. Vor sechs Jahren war ich mal in Friedrichstein, das Gut, auf dem sie aufgewachsen ist. Es liegt heute im Kaliningrader Gebiet und das Schloss ist leider nach 1945 völlig zerstört bzw. als Steinbruch benutzt worden, um den Sozialismus aufzubauen. Mit Steinort verband Marion Dönhoff in ihrer Jugend eine enge Beziehung, weil sie hier mit ihren etwa gleichaltrigen Cousins Sissi und Heinrich von Lehndorff oft die Ferien bei deren Großeltern verbrachten. Heinrich von Lehndorff war wohl ihre große Jugendliebe. Heinrich von Lehndorff übernahm das Gut in den dreißiger Jahren von seinen Großeltern. Aber Heinrich von Lehndorff war auch einer der Beteiligten an dem Attentat auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944. Dafür wurde er am 4. September 1944 in Berlin-Plötzensee hingerichtet, was für Marion Dönhoff eine große Tragödie gewesen sein muss. In den beiden einfühlsamen aber auch differenzierten Biografien von Klaus Harpprecht und Alice Schwarzer kann man viel über diese Beziehung nachlesen. Ganz aufklären wird man sie nie können, denn Marion Dönhoff wusste auch zu schweigen. Immerhin hatte Heinrich Graf von Lehndorff 1937 geheiratet.
Aber Steinort und die Lehndorffs sind auch darüber hinaus von Interesse. Nur wenige Kilometer entfernt liegt eine der ehemaligen Zentralen des organisierten Verbrechens der NS-Diktatur, das sogenannte Führerhauptquartier Wolfsschance. Hier hat Hitler in den Jahren 1941 und 1944 immerhin rund 800 Tage verbracht. Das führte aber auch dazu, dass mehrere Reichsspitzenfunktionäre mit ihren Stäben in der Umgebung Dependancen für sich akquirierten und so kam es, dass auf Gut Steinort sich der Reichsaußenminister von Ribbentrop einquartiert hatte. Man stelle sich die Situation vor. Auf Gut Steinort trafen sich öfter Beteiligte des Widerstands gegen Adolf Hitler und einige Zimmer weiter residierte der Reichsaußenminister. Antje Vollmer, die langjährige Politikerin der Grünen und frühere Bundestagsvizepräsidentin, hat über dieses Doppelleben der Lehndorffs wohl ein sehr interessantes Buch geschrieben. Für mich war diese Geschichte Grund genug, mich einmal mit der Gegend vertraut zu machen.
Tagesdaten: 102,89 Km; 08:45:22 Std. Fz.; 11,75 Km/h; 503 Hm