12. Tag (25. September 2020): Von Hornburg nach Grafhorst

Tagesdaten: 107,55 Km

Endlich mal wieder ein gutes Frühstück. Frau Dahm serviert Corona bedingt selbst. Buffets scheinen zur Zeit den Hygienekonzepten zu widersprechen. Nicht immer aber oft wird deshalb das Frühstück jedem Gast persönlich serviert. Es gibt ordentliche Brötchen und Brot, Wurstaufschnitt, Käse, Marmelade und wenn man will kann man auch Rührei, Spiegelei oder eingekochtes Ei bekommen. Auch Orangensaft und Obst bekommt man auf den Tisch gestellt. Ich bin restlos zufrieden. Im Laufe meines Frühstücks gesellt sich noch ein Pärchen in den Raum. Wir haben uns gestern bereits im Restaurant gesehen. Sie saßen am Nachbartisch. Wir kommen daher nun ins Gespräch und auch sie sind mit dem Fahrrad unterwegs, kommen von Hamburg, wollen nun aber wieder zurückfahren. So tauschen wir Erfahrungen aus und das Frühstück wird recht kurzweilig.

Der Blick hinaus zeigt nun, dass eine Wetteränderung eingetreten ist. Seit ich unterwegs bin, schien bisher die Sonne, heute ist bedeckt und für die nächsten Tage ist sogar anhaltender Regen angesagt. So werde ich mir überlegen müssen, ob ich dann weiterfahre oder eine Pause einlege. Heute soll es aber trocken bleiben. Als grobes Ziel habe ich heute Oebisfelde ins Auge gefasst. Das sind aber über 100 Kilometer. Da die Strecke jedoch recht anspruchslos erscheint und ich auch nicht viele Highlights erkennen kann, müsste es zu schaffen sein.

Von Hornburg nach Sommereschenburg

Nach dem Frühstück packe ich meine Sachen zusammen und gegen 9:30 Uhr geht es dann los. Die ersten 40 Kilometer sind relativ langweilig. Es geht über feste Schotterstrecken oder asphaltierte Wege nah an der Grenze entlang mal durch Niedersachsen mal durch Sachsen-Anhalt über das sogenannte Große Bruch, eine als Feuchtgebiet ausgeprägte Talniederung zwischen Oschersleben in Sachsen-Anhalt im Osten und Schladen-Werla in Niedersachsen im Westen. Es ist eine vorwiegend landwirtschaftlich genutzte flache Gegend mit gelegentlichen kleinen Hügeln. Bei Söllingen geht es dann aber über die Höhenzüge des Naturparks Elm-Lappwald bis kurz vor Schöningen. Schöningen bleibt aber links liegen und es geht auf einem Radweg entlang einer Landstraße weiter in Richtung Hötensleben. Nach einigen hundert Metern sieht man linkerhand mitten in der Landschaft ein silbern glänzendes Gebäude. Auf dem Zufahrtsschild von der Straße aus steht „Paläon“. Ich kann mir zunächst nichts darunter vorstellen, zumindest nicht, dass es etwas mit Paläontologie also mit der Erforschung der Lebenswelten der Vergangenheit zu tun haben könnte.

Zwei Kilometer weiter eröffnet sich dann links der Straße ein riesiges schwarzes Loch, was sich als Braunkohletagebau Schöningen erweist wie ich am Tagebauinformationspunkt, an dem ich dann anhalte, lesen kann. Mit den Planungen dafür wurde 1974 nach der ersten Ölkrise begonnen. Die Braunkohle, die hier gefördert wurde, verwendete man im nahegelegenen Kraftwerk Buschhaus zur Stromerzeugung. Inzwischen sind die Braunkohlevorräte wohl erschöpft und der Tagebau seit 2017 stillgelegt. Die Wunde in der Landschaft wird noch einige Jahre zu sehen sein. Interessant ist das dieser Tagebau, der in Niedersachsen also auf westdeutscher Seite lag,  unmittelbar bis an die innerdeutsche Grenze reichte. Mir persönlich war gar nicht bewusst, dass hier in der Gegend jemals Braunkohle abgebaut wurde.

Nun erfahre ich auch, was es mit dem Paläon auf sich hat. Es hat tatsächlich etwa mit der Paläontologie zu tun. Es ist ein Besucherzentrum und Museum bei Schöningen, das vor allem der Ausstellung der Schöninger Speere (!) und der Darstellung der Lebens- und Umweltverhältnisse zu deren Entstehungszeit vor rund 300.000 Jahren dient. Es liegt in unmittelbarer Nähe des Fundortes der Speere im früheren Braunkohlentagebau Schöningen. Als ich das bei Wikipedia lese, schwant mir nichts Gutes. Ich frage mich schon, ob sich so ein Aufwand für drei Speere gelohnt hat. Das bestätigt sich als ich bei Wikipedia weiterlese, dass die Einrichtung am 24. Juni 2013 unter der Bezeichnung Paläon eröffnet wurde. Sie wird auch als Forschungs- und Erlebniszentrum Schöninger Speere bezeichnet. Soweit so gut. Aber: Das von einer GmbH betriebene Paläon schloss am 30. Juni 2019 aufgrund von hohen finanziellen Verlusten und ging am 1. Juli 2019 in die Trägerschaft des Niedersächsischen Landesamtes für Denkmalpflege über.

Die Kritik an diesem Projekt war schon bei dessen Planung heftig. So kam es bereits beim Bekanntwerden des Neubauprojektes 2009 zu Zweifeln hinsichtlich der Rentabilität und den zu erwartenden Besucherzahlen, auch wenn die Funde von Forschern für die „Kronjuwelen niedersächsischer Archäologie“ gehalten werden. Der Bund der Steuerzahler und einzelne Politiker kritisierten den Neubau als „Geldverschwendung“. Die niedersächsische Landesregierung sah hingegen im Paläon ein Leuchtturmprojekt, das im Verbund mit anderen Museen der Umgegend zu sehen sei und die strukturschwache Region im östlichen Niedersachsen auch touristisch fördern solle. Tatsächlich erwies sich das Projekt als riesiges Investitionsgrab, was man bei Wikipedia noch genauer nachlesen kann.

Nachdem ich mich diesbezüglich kundig gemacht habe, fahre ich einige Meter weiter über die Grenze wieder nach Sachsen-Anhalt in den Ort Hötensleben, der so nah an der Grenze lag, dass dessen erste Häuser gerade einmal 35 Meter vom Grenzstreifen und vielleicht 100 Meter vom Braunkohletagebau im Westen entfernt lagen. Für die Grenztruppe der DDR muss diese Situation natürlich traumatisch gewesen sein.  Aufgrund der Grenznähe wurde daher, wie es im DDR-Jargon hieß, „der pionier-technische Ausbau von Ortschaften auf hohem Niveau“ angewendet. So wurden unter anderem Mauern als Sichtblenden gebaut, die für die sonstige innerdeutsche Grenze unüblich war.

Am 12. Januar 1990 wurden die Grenzanlagen unter Denkmalschutz gestellt, die den Zustand von 1989 dokumentieren.  Auf einer Länge von 350 m und einer Fläche von 6,5 ha sind unter anderem die Sichtblendmauer, der Signalzaun, das Sicht- und Schussfeld mit Lichttrasse, Kolonnenweg und Kfz-Hindernis, die Grenzmauer und der Führungsturm mit Kraftfahrzeugstellung erhalten geblieben. Seit 2004 sind sie als Grenzdenkmal Hötensleben Bestandteil der rund 18 km nördlich liegenden Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn. Seit 2011 zählt die Anlage mit der Gedenkstätte in Marienborn zum Europäischen Kulturerbe. Das Gelände des Denkmals ist frei zugänglich. Ich will nicht! – Ich schaue mir zwar die Erläuterungstafeln an aber immer wieder sträubt sich bei mir etwas, in den alten Grenzsicherungsanlagen spazieren zu gehen. Vielleicht habe ich ein schlechtes Gewissen, weil ich es als Voyeurismus betrachte in ehemals todbringenden Anlagen als Tourist herumzuspazieren.

Hier in Hötensleben mache ich aber erst mal eine Pause. Die Suche nach einer Bäckerei erweist sich jedoch als etwas schwierig und nimmt einige Zeit in Anspruch. Schließlich finde ich einen Netto mit angeschlossener Bäckerei und versorge mich mit Brötchen und einem coffee to go. Mein Mittagessen nehme ich auf dem Parkplatz des Netto ein. Danach habe ich Schwierigkeiten wieder aus dem Ort heraus und den richtigen Weg zu finden. Dann geht es aber über Offleben weiter nach Sommerschenburg. Schon im bikeline hatte ich gelesen, dass hier im 19. Jhdt. von den Gneisenaus ein Schloss im neugotischen Stil erbaut wurde. Am 11. November 1814 erhielt der Heeresreformer und preußische Feldherr August Wilhelm Anton Graf Neidhardt von Gneisenau (1760–1831) die Burg. Neben dieser Dotation wurde ihm vom König Friedrich Wilhelm III für seine Verdienste in der Völkerschlacht bei Leipzig der Grafentitel verliehen. Kurz vor dem Ort weist dann ein Schild zu meiner Überraschung auf eine direkt an der Hauptstraße gelegene Gedenkstätte für den preußischen Generalfeldmarschall und Heeresreformer von Gneisenau hin. Davon hatte ich bisher noch nichts gehört und gewusst. Die Gedenkstätte liegt im Park des Schlosses, ist aber im Gegensatz zum Schloss selbst und zum Schlosspark im übrigen  öffentlich zugänglich. Die Gedenkstätte besteht aus einem großen, repräsentativen Platz,  dem Mausoleum für Gneisenau und einem Standbild Gneisenaus von Christian Rauch, dem sicher bedeutendsten klassizistischen Bildhauer im Preußen des 19. Jhdt.

Das Standbild steht vor dem Hintergrund einer reliefartigen, klassizistischen Tempelfront flankiert von zwei Kanonen auf einem etwa 70 Meter langen und 30-40 Meter breiten Rasenplatz über den zwei Schotterweg zum Denkmal führen. Vom Platz aus ist das Mausoleum nicht zu sehen. Es befindet sich hinter der Tempelfront etwas versteckt und verborgen. Dennoch gelingt es mir bis dorthin durchzudringen. Aber natürlich ist das Mausoleum verschlossen. Gegenüber dem Standbild auf der Vorderseite des Platzes befinden sich Standtafeln, die das Leben Gneisenaus und seines Chefs, dem Fürsten Blücher, erzählen. Hier auch die schöne Geschichte, die Blücher einst in einer feucht-fröhlichen Gesellschaft zum Besten gab. So behauptete er, dass er seinen Kopf küssen könne. Als dies die Mehrheit der Anwesenden bestritt, stand Blücher auf, schritt zu Gneisenau, umfasste mit beiden Händen dessen Kopf von hinten und gab ihm einen schallenden Kuss. Daraufhin sagte er, ruhig zu seinem Stuhl zurückkehrend: „Das ist der Kopf, denn er hat die schönen Feldzugspläne ausgeheckt; ich aber habe sie ausgeführt.“

Die Errichtung der Gedenkstätte erfolgte übrigens unter großen Schwierigkeiten und Verzögerung. Gneisenau war 1831 in Posen an der Cholera gestorben. Die sterblichen Überreste des Generalfeldmarschalls wurden nach Abklingen der Cholera in die Kirche von Wormsdorf (Landkreis Börde) überführt. Nach dem Willen des Königs sollte dem verdienten Soldaten jedoch ein würdiges Grabmal mit einer Marmorstatue des alten Freiheitskämpfers errichtet werden. Karl Friedrich Schinkel wurden die Planung und Errichtung des Mausoleums übertragen, während der Bildhauer Christian Daniel Rauch mit der Ausführung des Denkmals beauftragt wurde. Jedoch verzögerte sich die Herstellung des Denkmals, da das Schiff, das den Marmorblock aus Carrara in Italien beförderte, in einem Sturm in der Biskaya unterging. Weitere Jahre vergingen, bis ein neuer Block in Auftrag gegeben, in Marmorbrüchen von Carrara ausgewählt, herausgebrochen und auf die Reise geschickt werden konnte. Als König Friedrich Wilhelm III. am 7. Juni 1840 starb, trat eine erneute Verzögerung ein. Im Frühjahr 1841 war endlich alles so weit, dass das Denkmal errichtet und der Sarg nach Sommerschenburg überführt werden konnte. Der neue König von Preußen, Friedrich Wilhelm IV., der den Generalfeldmarschall sehr verehrt hatte, sah es als eine seiner ersten Regierungsmaßnahmen an, die lange verzögerte öffentliche Ehrung nun endlich durchzuführen. Am 18. Juni 1841 – 26 Jahre nach Waterloo – fand die Einweihung des Mausoleums in Gegenwart des Königs sowie des königlichen Hauses und Hofes statt. Generäle von Truppenteilen aller Waffengattungen, Vertreter der Behörden und der Geistlichkeit waren als Ehrengäste geladen. Auch die Bevölkerung durfte an der Feier teilnehmen.

Das Schloss der Gneisenaus wurde 1945 durch die Kommunisten zwangsenteignet und die Besitzer vertrieben. Mittlerweile wechselte das Schloss mehrfach den Besitzer und verfällt zunehmend.

Von Sommereschenburg nach Grafhorst

Von Sommerschenburg nach Marienborn ist es nur noch ein Katzensprung. Das adrette Dorf mit seiner Klosterkirche, der Brunnen- und Marienkapelle und der Orangerie steht in einem merkwürdigen Gegensatz zur brutalistischen Wirkung der ehemaligen Grenzübergangsstelle Marienborn, zu der ich einen sehr kurzen Abstecher mache. Danach geht es auf etwas verschlungenen und teilweise sehr unebenen Waldwegen über Bad Helmstedt an die Aller und nach Walbeck. In Walbeck befindet sich die Ruine einer ottonischen Stiftskirche, Walbeck ist heute einem Stadtteil von Oebisfelde-Weferlingen im Landkreis Börde. Die in weiten Teilen erhaltene, auf einem Kalksteinfelsen 25 Meter über dem Allertal gelegene Ruine ist wohl vor allem deshalb von Bedeutung, weil sie wertvolle Erkenntnisse über die Bautechnik in der Ottonenzeit erlauben soll. Heute ist die Ruine eine Station an der Straße der Romanik.

Ich fahre allerdings nicht zu der Ruine hoch, die ich schon einmal anlässlich einer Tour auf der Straße der Romanik angeschaut hatte. Heute gilt mein Interesse dem viel zu jung verstorbenen Schauspieler Ulrich Mühe (1953-2007), der hier in Walbeck ein Haus besaß und hier nach seinem Tod begraben wurde. Der Weg zum Friedhof ist dann etwas aufwendig, weil er doch recht weit außerhalb des Ortes liegt. Nach einigem Suchen finde ich auch das schlichte Grab und verweile hier in dem Gedenken an seine wohl eindrucksvollste Rolle in seinem letzten Film „Das Leben der Anderen“ aus dem Jahre 2006.

Danach fahre ich im Tal der Aller über Weferlingen nach Oebisfelde. Da ich nicht unter Zeitdruck stehe, habe ich mich entschieden, die nächsten zwei Tage hier in der Gegend zu verbringen und den angekündigten Regen abzuwarten. Leider finde ich in Oebisfelde kein passendes Quartier. So weiche ich auf das Hotel Krüger in Grafhorst aus. Grafhorst liegt etwa vier Kilometer von Oebisfelde entfernt, aber schon wieder in Niedersachsen. Mein Zimmer im Hotel Krüger ist sehr ansprechend und das Abendessen nach der doch recht langen Tour eine Wohltat.

 

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