Das Frühstück im Gasthof Endler ist wieder ausgezeichnet und das Wetter noch immer sehr schön, allerdings auch etwas heiß. Freilich, wenn man sieht was im Westen unseres Landes zur Zeit passiert, dann sollte man sich mit Klagen über die Wärme zurückhalten. Vor etwas über einem Jahr bin ich genau die Strecken an der Ahr und an der Erft entlanggefahren, die jetzt der durch Starkregenfälle hervorgerufenen Fluten beider Flüsse solche Zerstörungen verursacht haben wie wir sie seit Menschengedenken niemals erlebt und viele Menschen aus dem Leben gerissen haben. Kaum vorstellbar, was da abgeht. Und kaum vorstellbar wie es weitergeht, wenn Herr Laschet tatsächlich Bundeskanzler werden sollte.
Bevor es aber aber bei mir weiter geht, mache ich noch einen Besuch in der evangelischen Kirche in Rheinsberg, die direkt gegenüber meinem Quartier steht. Die dem Märtyrer Laurentius geweihte Kirche entstand in mehreren Phasen. Der älteste Teil des heutigen Gebäudes war ein Saal, vermutlich aus der Mitte des 13. Jahrhunderts, der als heutiger Altarraum erhalten ist. Ende des 16. und Anfang des 17. Jahrhunderts wurde die Kirche erweitert und umgebaut. Der Innenraum wurde komplett im Stil der Hochrenaissance umgebaut, was die Kirche meines Erachtens sehr ansehnlich gemacht hat. Fontane meinte hingegen, dass sie nicht so ganz zur klassizistischen Gestaltung Rheinsbergs passe. Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Fassade der Feldsteinkirche jedoch verputzt. Der Putz wurde 1992 bei der Restaurierung erneuert. Dies trägt sicher der Tatsache Rechnung, dass eine Feldsteinkirche im klassizistischen Ensemble Rheinsbergs sicher etwas seltsam angemutete hat.
Ich schaue mich in der Kirche ein wenig um. Die Ausstattung mit Werken der Spätrenaissance ist sicher kulturhistorisch ganz bemerkenswert. Allerdings habe ich auch ein Faible für die Kunst gerade dieser Zeit. Der Hochaltar stammt aus dem Jahr 1576, wobei Teile eines gotischen Flügelaltars eingearbeitet wurden. Dazu gehört ein geschnitztes Figurenrelief der Kreuzigung. Die Predella des Altars zeigt das Bild eines unbekannten Malers mit dem Abendmahl Jesu. Bemerkenswert an diesem Bild ist die Darstellung von Martin Luther und Philipp Melanchthon, die als Jünger Jesu auch an der Tafel sitzen, was man leider auf meinem Foto nicht erkennen kann, weil ich es erst später mitbekommen habe und daher die Predella nicht gesondert fotografiert habe. Das Bild ist also ganz im Geiste der Reformation entstanden. Etwas im Hintergrund erscheint ebenfalls als Jünger der Auftraggeber und Stifter der Kirchenerneuerung, Achim von Bredow.
Überhaupt spielt Achim von Bredow auch heute noch in der Kirchenausgestaltung eine dominierende Rolle. Ein Epitaph ist Achim von Bredow und seiner Frau Anna von Arnim gewidmet. Der Epitaph füllt fast ein Drittel einer Längsseite der Kirche aus und die Personen, derer gedacht werden soll sind übergroß dargestellt. Auch weitere Epitaphe finden sich in traditioneller Form hier. Nach einem kurzen Rundgang verlasse ich dann die Kirche.
Heute geht es nun nach Neuruppin. Ich fahre nicht auf dem direkten Weg nach Neuruppin, sondern variiere ihn etwas mit einer vorgeschlagenen Tagestour, die man hätte auch von Rheinsberg aus machen können. So führt mein Weg erst einmal auf einer zwar asphaltierten, aber dennoch sehr holprigen Straße von Braunsberg nach Binenwalde am Kalksee. Der Ortsname Binenwalde und auch der Ausfluss des Kalksees, der Binenbach, die romantische Landschaft mit viel Wald und der idyllische Kalksee beflügelte die romantische Literatur, und diese erfand im 19. Jahrhundert die Figur der Schönen Sabine. Sie soll die einzige Tochter des Försters Cusig gewesen sein, dem seine Frau (und damit Sabines Mutter) früh gestorben sein soll. Sabine führte ihrem Vater den Haushalt, der tagsüber in seinem weiten Revier unterwegs war und erst spät nach Hause kam. Nach getaner Arbeit fuhr Sabine oft mit dem Kahn an den Ausfluss des Kalksee, den später nach ihr benannten Binenbach, ihren Lieblingsplatz. Dort sang sie dann oft ein noch von der Mutter gelerntes Liedchen. Eines Tages stimmte nun ein junger Flötenspieler in die Melodie ein. Es war der junge Kronprinz Friedrich, der spätere Friedrich der Große. Sie erkannte ihn nicht, und er gab sich ihr auch nicht zu erkennen. Doch dann rief sie der Vater über den See hinweg, Sabine und das Echo antwortete Bine, Bine. Sie stieg schnell wieder in ihren Kahn und fuhr über den See zurück. Die beiden trafen sich nun immer wieder an den Abenden am gleichen Platz, und Friedrich erzählte ihr vom schwierigen Verhältnis zwischen dem König und dem Kronprinzen. Eines Tages fragte sie ihn nach seinem Namen, Er sagte ich heiße Fritz, nenn mich einfach Fritz. Und ich heiße Sabine, antwortete sie. Eines Tages kam der geheimnisvolle Flötenspieler aber nicht mehr zum verabredeten Treffpunkt, und auch nicht an den folgenden Tagen. Der Vater zog nun Erkundigungen über den geheimnisvollen Flötenspieler ein und erfuhr, dass es der Kronprinz war. Er musste Sabine nun die für sie traurige Wahrheit überbringen, dass ihr Flötenspieler nun nach Berlin gezogen und dort zum König gekrönt worden war. Doch Friedrich erinnerte sich an Sabine und die schönen Stunden am Kalksee und schenkte ihr ein Gut am See, dass nun Binenwalde genannt wurde.
Das Thema wurde vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer wieder literarisch aufgegriffen. Während in den meisten Erzählungen von romantischen Treffen die Rede ist, dichtete Theodor Fontane ein Verhältnis von Friedrich mit der schönen Sabine hinein. Um die Staatsräson zu wahren musste sie schließlich den Förster Kusig heiraten. Bei Wikipedia liest sich die ganze Geschichte erheblich prosaischer: Am 17. Dezember 1753 schloss die Königlich-Preußische Kriegs- und Domänenkammer einen Erbzinskontrakt mit dem Förster Ernst Ludewig Cusig (oder auch Kusig geschrieben) (†1773) über den Aufbau einer Kolonie am Kalksee auf dem westlichen Teil der Feldmark Braunsberg ab. Das Land gehörte zum Amt Alt Ruppin. Cusig erhielt 397 Morgen Land, davon 325 Morgen Acker, 20 Morgen Wiese und 52 Morgen unbrauchbares Land (1 Morgen ist zu 180 Quadratruten gerechnet) zu Eigentum. Er musste sich aber verpflichten, acht ausländische Kolonistenfamilien in der neuen Kolonie anzusiedeln. Den Kolonisten wurden ihre Häuser und je 2 Morgen Gartenland ebenfalls eigentümlich überlassen. Sie erhielten außerdem die Hütung in den Steinbergen und anderen Amtsrevieren. Außerdem waren die ersten sechs Jahre abgabenfrei. Die neue Kolonie wurde nach der Frau des Försters Cusig, Sabine geb. Schott (1715-1783) benannt. Das Paar hatte 1734 geheiratet.
Nach einem kurzen Rundgang auch zum Denkmal der schönen Sabine geht es weiter. schon die letzten Kilometer ist die Strecke doch recht hügelig geworden. Ich fahre jetzt durch die Ruppiner Schweiz. Sie ist ein langgestrecktes hügeliges Waldgebiet und erstreckt sich von Neuruppin im Süden bis zum Neuruppiner Ortsteil Binenwalde im Norden und befindet sich dabei größtenteils auf dem Stadtgebiet von Neuruppin. Zentraler Teil der Ruppiner Schweiz ist das Naturschutzgebiet Ruppiner Schweiz mit der durch Kalksee, Binenbach, Tornowsee, Zermützelsee, Tetzensee, Molchowsee und Rhin gebildeten Seenkette. Mein nächstes Ziel ist die Boltenmühle am Tornowsee, die über einen Abstecher zu erreichen ist, der über recht holprige, sandige und steile Wege führt. Ein lauschiges Plätzchen ist die Boltenmühle wahrlich nicht. Das Gartenlokal ist bereits heute am späten Vormittag von Gästen besetzt. Ich verweile hier nicht lange und kehre den steilen Fußweg zurück auf die Hauptstrecke. Zum ersten Mal auf meiner Reise muss ich mein Rad schieben. Der sandige Untergrund macht es für mich unmöglich bergaufzufahren.
Ich fahre nun ohne weiteren Stopp bis nach Molchow. Hier gibt es ein Kuriosum, das von Fontane recht drastisch beschrieben wurde. Obwohl das slawische Runddorf keine eigene Kirche hat, steht mitten im Ort ein hölzerner Glockenturm. Einst fanden die Molchower eine geborstene Glocke, erbarmten sich ihrer und bauten ihr einen Turm, heißt es. Fontane kommentierte den Turm mit den Worten: „Aus der Mitte des Platzes wächst ein Turm auf, unheimlich und grotesk, als habe ihn ein Schilderhaus mit einer alten Windmühle gezeugt. Von beiden etwas“. Ich verweile hier eine Weile auf einer Bank und nehme mein Mittagsmahl, zwei beim Aldi erworbene Käselaugenstangen, zu mir.
Von Molchow aus mache ich noch einen kurzen Abstecher nach Krangen, wo es eine der einfachsten Formen der Schinkelschen Normalkirche gibt. Bei der so genannten Normalkirche Schinkels handelt es sich um einen Kirchenbau, der zur Kostenersparnis nach einer allgemeinen Vorlage Karl Friedrich Schinkels in ländlichen Gegenden Preußens errichtet wurde. Der schlichte, sparsame klassizistische Rundbogenbau kam in der Regel mit lediglich geringen regionalen Abweichungen zur Ausführung.
Der „Baumeister Preußens“ entwarf 1825 im Auftrag Königs Friedrich Wilhelm III. einen Prototyp für eine derartige Einheitskirche, bei der ihm sein erster Kirchenbau, die ein Jahr zuvor vollendete Kirche St. Nicolai in der Magdeburger Neuen Neustadt, als Vorlage gedient haben soll. Hier wollte er nach der 1817 erfolgten Auftragserteilung ursprünglich einen gotisch orientierten Kirchenbau errichten, der aus Kostengründen nicht zur Ausführung kam. Auch die Konzeption der gedrungenen Kirchtürme in der Normalkirche Schinkels geht möglicherweise auf die Erfahrungen aus dem Magdeburger Kirchenbau zurück. Denn Schinkel hatte in einem zweiten Entwurf einen zeitgemäßen hohen Kirchturm vorgesehen. Der Magdeburger Stadtkommandant lehnte diesen Turm ab, da er mögliche feindliche Einblicke in die Festung befürchtet haben soll. Damit kam ein dritter und letzter Entwurf zur Ausführung, der einen vergleichsweise niedrigen Turm vorsah und der den Vorstellungen von einem preiswerten einfachen Bau für schnell wachsende oder neue Gemeinden und Siedlungen mit geringen Geldmitteln entsprach. Als weitere Vorlage käme auch die kleine turmlose Kirche in Nakel im Herzogtum Posen, die Schinkel 1819 entwarf und die nur 4000 Taler kostete, in Frage. Dem König Friedrich Wilhelm III. soll das Kosten-Nutzen-Verhältnis so gut gefallen haben, dass er sie 1827 im Normalkirchenerlass zum Vorbild aller evangelischen Kleinkirchen in Preußen bestimmte.
Die Kirche in Krangen aus dem Jahre 1837 ist sicher die sparsamste Version der Schinkelschen Normalkirche gewesen, wurde auf einen Turm aus Kostengründen verzichtet. Leider ist die Kirche verschlossen und so fahre ich zügig zurück nach Molchow und dann die restlichen ca. 7 Km nach Neuruppin. Zügig weil es nun sozusagen von den „Gipfeln“ der Ruppiner Schweiz auf einem gut ausgebauten Fahrradweg abwärts geht. Am frühen Nachmittag bin ich dann am Ziel. Mein Up-Hus-Idyll entpuppt sich als Hotel im restaurierten alten Siechenhaus mit direkt angegliederter gotischer Kapelle. Die Siechenkapelle St. Lazarus ist ein spätgotischer norddeutscher Backsteinbau. Sie zählt mit „ihrem reichen Bauschmuck zu den wertvollsten Beispielen spätgotischer Baukunst im Ruppiner Land“. Der Kirchenbau ist die jüngste der städtischen Hospitalkapellen aus dem Jahre 1491.
Die Rezeption des Hotels befindet sich unterhalb der Orgel der Kirche. Hier kann ich auch mein Fahrrad sicher abstellen. Zum Hotel gehört noch das im Hof gegenüberliegende Uphus aus dem Jahre 1694, das wohl als Armenhaus genutzt wurde. Im Untergeschoss ist ein Restaurant, für das auch der Hof genutzt wird. Im oberen Stockwerk befinden sich noch Hotelzimmer. Ich bekomme ein ziemlich kleines Zimmer unter dem Dach des Siechenhauses. Da ich durch mein Rheinsberger Palais recht verwöhnt bin, bin ich erst einmal etwas verärgert und denke mit Schaudern an das Zimmer in Gransee zurück. Und hier soll ich es nun für drei Nächte aushalten. Aber nach einiger Zeit bessert sich meine Stimmung und ich merke doch deutliche Unterschiede zu dem Zimmer in Gransee. So ist hier ein kleiner Schreibtisch im Zimmer und auch ein Ventilator steht zur Verfügung.
Nachdem ich mich eingerichtet habe, mache ich noch einen ersten Spaziergang durch die Stadt. Neuruppin ist wie schon gesagt die Geburtsstadt Theodor Fontanes. Aber auch Karl Friedrich Schinkel wurde hier 1781, also fast 40 Jahre vor Fontane, geboren. Und auch Friedrich II., der hier ab 1732 als Regimentskommandeur stationiert war, hat natürlich in Neuruppin Spuren hinterlassen.
Den Abend verbringe ich dann im Freisitz des Restaurants meines Hotels und bereite mich nach dem Essen auf meinen morgigen Spaziergang durch Neuruppin vor.
Tagesstrecke: 40,80 Km