6. Tag (10. Juli 2021) – Fontaneweg 1 – Von Oranienburg nach Gransee

von 17. Juli 2021Aktuelles

Die Nacht hat es noch einmal kräftig geregnet. Der Regen hört aber gegen 9 Uhr auf. Ich starte um 10 Uhr. Der Vormittag bleibt bedeckt aber am Nachmittag klart es auf und wird wieder sehr warm.

Der Fontaneradweg beginnt hier in Neubrandenburg und folgt den Beschreibungen von Theodor Fontanes „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ die dieser zwischen 1862 und 1889 schrieb. In dem fünfbändigen Werk beschreibt er darin Schlösser, Klöster, Kirchen, Orte und Landschaften der Mark Brandenburg, ihre Bewohner und ihre Geschichte. Das Werk gilt als Ausdruck eines gewachsenen preußischen Nationalbewusstseins und der Romantik. Die Eindrücke und historischen Erkenntnisse, die Fontane während der Arbeit an den Wanderungen gewann, bildeten auch die Grundlage für seine späteren großen Romane wie Effi Briest oder Der Stechlin.

Dass der Fontaneradweg hier in Oranienburg beginnt, folgt aber nicht der Gliederung der Bücher, sondern der Sinnhaftigkeit eines Fernradweges. So wird Oranienburg von Fontane erst im dritten Band seiner Wanderungen mit dem Titel Havelland beschrieben. Die Gliederung Fontanes richtet sich mehr nach Regionen. So beginnt er mit seiner Heimatregion, der Grafschaft Ruppin, dann folgt das Oderland, das Havelland, das Spreeland und schließlich als letzter Band die Fünf Schlösser, wo Fontane noch einmal über die Schlösser Quitzöwelm, Plaue a.H.,Hoppenrade, Liebenberg und Dreilinden eigene Monografien schreibt. Zwei der fünf Schlösser, Liebenberg und Hoppenrade, liegen schon heute auf meinem Weg. Sowohl, das Oderland als auch das Spreeland werden vom Fontanradweg nicht berührt, auch an den Schlössern Dreilinden und Quitzöwel wird mein Weg nicht vorbeiführen.

Fontane ist übrigens auch nicht in unserem heutigen Sinne gewandert, sondern er ist durch Brandenburg gereist. Nie war ihm der Weg das Ziel. Er ist wenig gelaufen, mehr noch mit der Kutsche und schließlich auch mit der Bahn gereist, die ja gerade in den Entstehungsjahren der Wanderungen einen enormen Aufschwungsnahm und das Verkehrswesen revolutioniert hat.

Zunächst führt mich mein Weg aus Oranienburg aber noch an den Schrecknissen der jüngeren Vergangenheit, die nach Fontane Deutschland erfasste, vorbei. Die Terrorzentralen der Nationalsozialisten. In Sachsenhausen, heute ein Ortsteil von Oranienburg, komme ich am ehemaligen Sitz der sogenannten Inspektion der Konzentrationslager (IKL) vorbei. Dies war der Name der zentralen SS-Verwaltungs- und Führungsbehörde für die nationalsozialistischen Konzentrationslager, also der obersten Koordinationsbehörde des nationalsozialistischen Terrors in den Konzentrationslagern. Für mich wirkt es etwas makaber, dass dies nun heute der Sitz des Finanzamts Oranienburg ist. Ebenso unpassend finde ich es, dass einige Meter weiter ich an den Eingang der Hochschule der Polizei komme, vor der eine Informationsstele darauf verweist, dass hier der Eingang zur SS-Totenkopf-Kaserne gewesen sei, in der die SS-Wachmannschaften des KZ Sachsenhausen untergebracht gewesen sei. Ein Polizist an der Pforte verwehrt mir den Einlass. Von einer Gedenkstätte weiß er nichts und ich fahre kopfschüttelnd weiter und umrunde das gesamte Gelände, wo sich die Gedenkstätte befinden muss, in der Hoffnung zumindest den Zugang zur Gedenkstätte Sachsenhausen zu finden.

Als erstes finde ich ein Hinweisschild zu Massengräbern. Es bezieht sich allerdings auf das als „Zone I“ bezeichnete ehemalige Schutzhaftlager für deutsche Zivilisten (Speziallagerhäftlinge), die ohne rechtskräftige Verurteilung in den Jahren 1945 bis 1950 hier von der sowjetischen Militärverwaltung interniert wurden. Das Speziallager war von der Außenwelt fast völlig isoliert. Angehörige wurden nicht über den Verbleib und das Schicksal der Festgehaltenen informiert. Die ohne Rechtsgrundlage und unter menschenverachtenden Bedingungen Inhaftierten waren ehemalige Mitglieder der NSDAP, Sozialdemokraten, viele Jugendliche sowie willkürlich Denunzierte und politisch Missliebige, von denen Opposition gegen das sozialistisch-kommunistische Gesellschaftssystem befürchtet wurde. Auch ehemalige deutsche Wehrmachtsoffiziere und Ausländer gehörten dazu. Das Lager war kein Arbeitslager. Die Häftlinge litten unter der erzwungenen Untätigkeit, unter ständigem Hunger, Kälte, Ungeziefer und medizinisch nicht behandelten Folgeerkrankungen. Sie starben zu Tausenden und wurden in Massengräber geworfen und verscharrt. Von den in den Jahren 1945 bis 1950 etwa 60.000 Inhaftierten starben etwa 12.000 Häftlinge an Unterernährung, Krankheiten, psychischer und physischer Entkräftung.

Ich suche den Platz eines der Massengräber auf, wobei der Weg durch den märkischen Sand mit dem Fahrrad recht beschwerlich ist. Auf dem Platz ist eine Gedenkstele auf gestellt, mit einer Tafel mit der Aufschrift „Hölle, wo ist dein Sieg – Hier ruhen Opfer die im Lager Sachsenhausen 1945-1950 durch sowjetische Willkür ihr Leben lassen mussten“. Sicher sollte auch dieses dunkle Kapitel nicht in Vergessenheit geraten. Nach einigen weiteren Kilometern finde ich dann den ersten Hinweis auf die Gedenkstätte Sachsenhausen, allerdings nur auf einer Hinweistafel auf der Bundesstraße. Regionale Hinweisschilder habe ich nicht gesehen. So gelingt es mir aber doch nach einiger Zeit des Herumirrens an den Eingang dieser KZ-Gedenkstätte zu gelangen.

Das KZ Sachsenhausen war ein ab 1936 eingerichtetes nationalsozialistisches deutsches Konzentrationslager. Durch die Nähe zu Berlin und damit auch zur Gestapozentrale in der Prinz-Albrecht-Straße hatte das KZ Sachsenhausen eine Sonderrolle im KZ-System. Ein großes SS-Kontingent war hier stationiert. Das Lager diente als Ausbildungsort für KZ-Kommandanten und das Bewachungspersonal im ganzen NS-Machtbereich (ähnlich wie das KZ Dachau). Insgesamt wurden etwa 200.000 Häftlinge nach Sachsenhausen deportiert, nur etwa 140.000 davon wurden registriert. Im August 1941 wurde eine Genickschussanlage errichtet, in der etwa 13.000 bis 18.000 sowjetische Kriegsgefangene ermordet wurden. Insgesamt sollen mehrere zehntausend Häftlinge ermordet worden sein. Auch diese früheren Gräueltaten der Nazis sollten bei aller Empörung vor dem Hintergrund der sowjetischen Unmenschlichkeiten nicht vergessen oder verdrängt werden. Einen Besuch der Gedenkstätte erspare ich mir dann aber. Ich mache keinen Hehl daraus, dass ich solche Besuche nur noch schwer ertrage. Ich habe in den letzten Jahren hierzu genug gesehen: Auschwitz, Buchenwald, Flossenbürg, Neungamme, Mauthausen u.a. reichen mir.

So widme ich mich nun wieder oder endlich dem Fontane-Radweg. Erste Station ist das Dorf Neuholland. Mit der Kurfürstin Luise Henriette kam sozusagen Oranje-Spirit nach Brandenburg. Holländische Siedler ließen sich um 1700 hier nieder und schufen aus, wie es Fontane ausdrückte, „wertlos daliegendem Havel-Bruchland“ eine blühende Landwirtschaft. Man kann daran sehen wie lange die Arbeit der Fürstin nachwirkte. Fontane betont an mehreren Stellen seiner Wanderungen die kulturellen und wirtschaftlichen Fortschritte, die beispielsweise das Wirken der Kurfürstin hervorgebracht hat. Und sie wirken ja auch bis heute nach. Denn auch auf meinem Weg sehe ich landwirtschaftlich reich bestellte Landstriche, in denen das Korn sich inzwischen gelb eingefärbt hat und sich damit von der Reifephase der Erntephase nähert. Ansonsten erinnert in Neuholland aber nichts mehr an seinen holländischen Ursprung, zumindest ist mir nichts aufgefallen.

Hinter Neuholland verändert sich die Landschaft. Größere Wälder spenden mehr Schatten auf meinem Weg und die Landschaft wird gewellter. Es fällt übrigens auf, dass die Wälder hier in der Mark keinen kranken Eindruck machen. Sie bestehen aber überwiegend auch aus Laub- oder Mischwäldern mit zum Teil sehr altem Baumbestand, seien es Linden, Eichen, Buchen oder Ahorn. In dieser romantischen Landschaft gelange ich dann zum Schloss und Gut Liebenberg, dem, wie gesagt, Fontane eine eigene Monografie in den Fünf Schlössern gewidmet hat.

Das Adelsgeschlecht derer von Bredow entwickelte Liebenberg im 16. Jahrhundert zum Rittergut. Seit 1652 führte das klevesche Adelsgeschlecht derer von und zu Hertefeld das Gut zu Wohlstand. Jobst Gerhard von und zu Hertefelds Vater hatte durch gute Beziehungen zum brandenburgischen Kurfürsten Friedrich Wilhelm den Besitz Liebenberg in der Mark Brandenburg erworben und anschließend zum Hauptwohnsitz seiner Familie gemacht. Mit Freiherr Karl von und zu Hertefeld starb die Familie 1867 im Mannesstamm aus, so dass der Besitz an seine Großnichte Alexandrine Freiin von Rothkirch-Panthen fiel, die den Grafen Philipp Conrad zu Eulenburg (1820–1889) aus Ostpreußen heiratete, einen Bruder des Staatsministers Friedrich zu Eulenburg. 1867 wurde Alexandrine die Alleinerbin ihres Großonkels Karl Freiherr von und zu Hertefeld, wodurch die Besitzungen in Liebenberg an die Grafen und späteren Fürsten zu Eulenburg fielen. – Alles klar? Soweit die nicht untypische Geschichte des Besitzes eines Schlosses durch die Jahrhunderte.

Das Schloss entstand aus einem spätestens ab 1743 errichteten Herrenhaus, das zwischen 1875 und 1906 in historisierendem Stil erweitert wurde. Der ehemalige Barockgarten wurde im 19. Jahrhundert in Anlehnung an Gestaltungsentwürfe von Peter Joseph Lenné zum Landschaftspark mit barocken Elementen umgeformt. Die Basis für die landwirtschaftliche Nutzung der Umgebung ist seit dem 17. Jahrhundert dem kleveschen Oberjagdmeister Jobst Gerhard von und zu Hertefeld zu verdanken, dessen Leistungen Theodor Fontane im Band Fünf Schlösser der Wanderungen durch die Mark Brandenburg als „epochemachend für die Kulturgeschichte der Mark“ beschrieb. Auch bei ihm flossen holländische Erfahrungen ein, die sich aus der Nähe Kleves zu den Niederlanden ergaben.

Der bekannteste Liebenberger Schlossherr, Philipp Fürst zu Eulenburg und Hertefeld, war Diplomat und enger Vertrauter Kaiser Wilhelms II. In den für ihren Wildreichtum bekannten Liebenberger Wäldern gingen sie gemeinsam zur Jagd (Liebenberger Kreis), bis Eulenburg Opfer einer Kampagne des monarchiefeindlichen Journalisten Maximilian Harden wurde, der ihn der Homosexualität bezichtigte (Harden-Eulenburg-Affäre). An die enge Verbindung mit dem Kaiser erinnert der sogenannten Kaiserbrunnen im Innenhof des Schlosses.

Ich verweile hier ein ganze Weile und setze mich erst einmal auf eine Bank und verzehre meine mitgebrachten Käsestangen als Mittagsmahl. Direkt gegenüber dem Schloss schaue ich auf auf eine äußerlich sehenswerte Feldsteinkirche aus dem 13. Jahrhundert. Das Schloss ist heute ein Hotel. Ich sehe den Hinweis auf eine Libertaskapelle und befinde mich plötztlich in einer Kapelle, der dem Gedenken an die Widersandsgruppe der „Roten Kapelle“ gegen die Nationalsozialisten gewidmet ist. Im Mittelpunkt steht dabei wie es schon der Name der Kapelle zum Ausdruck bringt, Libertas Schulze Boysen.

Libertas Schulze-Boysen, geborene Libertas Viktoria Haas-Heye (* 20. November 1913 in Paris; † 22. Dezember 1942 in Berlin-Plötzensee durch Hinrichtung) gehörte als Mitwisserin und Helferin während des NS-Regimes zur Widerstandsgruppe Rote Kapelle. Libertas Schulze-Boysen war das jüngste von drei Kindern des aus Heidelberg stammenden Modeschöpfers Otto Ludwig Haas-Heye und dessen Frau Viktoria Ada Astrid Agnes Gräfin zu Eulenburg (1886–1967). 1934 machte sie die Bekanntschaft des Publizisten und Adjutanten im Reichsluftfahrtministerium Harro Schulze-Boysen, den Sohn eines Seeoffiziers und Großneffen des Großadmirals Alfred von Tirpitz, den sie am 26. Juli 1936 in der Schlosskapelle von Liebenberg, also hier am Ort, heiratete.

Das Ehepaar sammelte nach der Hochzeit junge Intellektuelle, Künstler und Arbeiter um sich und traf sich mit ihnen unbeobachtet von der Gestapo auf Schloss Liebenberg. Libertas Schulze-Boysen begann im Sommer 1942 in der Kulturfilmzentrale – zuständig für „Sachgebiete Kunst, deutsches Land und Volk, Völker und Länder“ – gemeinsam mit ihrem Mitarbeiter, dem (späteren) Schriftsteller Alexander Spoerl, Bildmaterial über Gewaltverbrechen an der Ostfront zu sammeln. Diese Informationen wurden zum Ausgangspunkt für ein Flugblatt. Nach der Entschlüsselung geheimer Funksprüche – über Brüssel – des Nachrichtendienstes der Sowjetunion durch die Funkaufklärung der Gestapo in denen ihr Name und die Wohnadresse stand, wurden Libertas am 8. September 1942 und ihr Mann bereits am 31. August 1942 verhaftet und vor dem Reichskriegsgericht angeklagt. Das Verfahren endete am 9. Dezember 1942 mit Todesurteilen. Libertas Schulze-Boysen wurde am 22. Dezember 1942 im Strafgefängnis Berlin-Plötzensee mit fünf weiteren aus der Widerstandsgruppe zwischen 20:18 bis 20:33 Uhr im Dreiminutentakt durch Enthauptung hingerichtet. Ihr Mann war bereits zuvor um 19:05 Uhr im selben Gefängnis und – aus Sicht der Nationalsozialisten – besonders unehrenhaft am Fleischerhaken gehängt worden.

Ziemlich betroffen verlasse ich die Kapelle. Diese Geschichte konnte Fontane natürlich noch nicht erzählen. Aber es gehört sicher auch zu den Nachbetrachtungen zu Fontanes Wanderungen, solche Ereignisse zu schildern. In der NS-Zeit kam Hermann Göring als Gast zum Jagen nach Liebenberg, während sich Libertas und ihr Mann mit Freunden hier trafen. Ich schlendere noch ein wenig über das Schlossgelände und schaue insbesondere noch in den Park auf der Rückseite des Schlosses.

Dann geht es weiter durch das Löwenberger Land, das übrigens eine Gemeinde ist, die aus dem Zusammenschluss von zehn Gemeinden erwuchs. In Löwenberg, dem Amtssitz der Gemeinde, schaue ich mir die alte Feldsteinkirche mit ihrem wuchtigen Wehrturm an. Hier sehe ich zum ersten Mal einen Kanzelaltar, der, wie ich noch feststellen werde, für lutherische Kirchen üblich aber auch für diese Region offensichtlich nicht unüblich ist. Gerade diese Altare sollen deutlich machen, dass im Mittelpunkt der Religionsausübung das Wort Gottes steht. Von Löwenberg meinte Fontane: Weltgeschichte fand hier zwar nicht statt, aber Fontane war begeistert von der „Krautentochter“, die Löwenberg rettete. Sie brachte genügend Geld in die Heirat mit dem verarmten von Bredow ein, der im Schloss in Hoppenrade residierte. An dem Schloss fiel mir dann eigentlich nichts besonderes auf. Außer dass es Privatbesitz ist und man ohnehin nicht hineinkommt. Lediglich der Park ist öffentlich zugänglich. Wie daraus eine Monografie bei Fontane in seinen Fünf Schlössern entstanden ist, kann ich im Moment nicht beurteilen.

Nun geht es aus dem Löwenberger Land in das Ruppiner Land. Nächste Station ist Meseberg, dass sicher allseits bekannt ist, weil das hiesige Schloss inzwischen als Gästehaus der Bundesregierung genutzt wird. Der kleine Ort mit seinen 150 Einwohnern liegt malerisch am östlichen Zipfel des Huwenosees. Als erstes fällt mit die schön sanierte barocke Kirche auf, die wie fast alle Kirchen bisher als offene Kirche firmiert. Auffallend ist schon äußerlich die für die Gegend untypische Zwiebelhaube. Ich mache also einen kurzen Stopp und besichtige kurz auch das Innere. Auffallend sind wieder der Kanzelaltar und die Orgel aus dem 19. Jhdt. Dominierend ist allerdings das rechts vom Altar die Wand ausfüllende monumentale Votivgemälde aus dem Jahr 1588, das Ludwig von der Gröben (1529–1601), Besitzer von Meseberg, Geheimer Rat und Oberkämmerer von Kurfürst Johann Georg von Brandenburg, und seine Ehefrau Anna geborene von Oppen († 1593) mit ihren 15 Kindern zeigt. Auf dem Votivbild sind im Hintergrund die Erschaffung Evas, der Sündenfall und die Auferstehung Christi dargestellt. Man sieht der Kirche deutlich an, dass sie zwischen 2012 und 2015 aufwändig saniert wurden. Schließlich soll natürlich Meseberg auf ausländische Staatsgäste einen guten Eindruck machen.

100 Meter weiter komme ich dann zu Schloss. Ich traue meinen Augen nicht. Wo ich noch vor etwa 10 Jahren ungehindert durch den Park wandern konnte versperren jetzt hohe Stahlzäune den Weg. Meseberg wirkt gesichert wie Fort Knox. Ich finde das doch sehr unerfreulich, weil ich mir schon vorstellen kann, dass dies auch in der Region Emotionen wieder in die Richtung freisetzt, die zur Gegenüberstellung von denen da oben und uns da unten führen. Natürlich muss ein Gästehaus der Bundesregierung gesichert werden. Aber man gibt für so viel Unsinn viel Geld aus, dass es mit Sicherheit auch personell möglich wäre, den Park so zu bewachen, dass der Bevölkerung der Zutritt zum Park nicht verwehrt wird. Die Öffnung gerade einmal jährlich am Tag der offenen Tür der Bundesregierung wirkt da schon etwas wie Hohn.

Nun folgen die letzten sieben Kilometer nach Gransee. Kurz vor Gransee lese ich auf einem Glasschild an einer ehemaligen Grundstückseinfahrt „Der Katharinenhof“. Ich halte an und lese, was auf dem Schild vermerkt ist: „Der „Katharinenhof“ am Meseberger Weg, benannt nach der jüdischen Bauherrin Katharina Veit Simon, wurde 1912/13 erbaut. … Zum Obstgut gehörten mehrere Hektar Plantagenfläche. Die gelernte Gärtnerin Katharina und ihre Schwester Eva, beide nahezu gehörlos, bewirtschafteten den Hof sehr erfolgreich. Aufgrund der zunehmenden Verfolgung der Juden durch die Nationalsozialisten wurde die Familie Veit Simon zum Verkauf des Gutes gezwungen. 1938 wurde das Anwesen „arisiert“. Von 1942 bis 1947 richtete sich der deutsche Spitzen-Diplomat Rudolf Nadolny, Botschafter a.D. mit seiner Familie auf dem Katharinenhof seinen Alterssitz ein. Während der DDR-Zeit entstanden durch mehrere Umbauten sechs getrennte Wohneinheiten. … Katharina und Eva Veit Simon wurden 1944 in Auschwitz ermordet“. Ziemlich sprachlos stehe ich eine Weile vor dem Schild, betrachte den Katharinenhof, der etwa 200 Meter von den Torpfeilern entfernt steht. Es ist für die Zeit sicher keine außergewöhnliche Geschichte, sondern eher eine typische Leidensgeschichte einer jüdischen Familie. Dennoch führt es einem immer wieder das Grauen vor Augen, was passieren kann, wenn Menschenverachtung und unkontrollierte Machtausübung zur Herrschaft gelangen. Vor diesem Hintergrund lässt einen manches, was wir zur Zeit in Europa erleben schon (wieder) erschaudern. – Aber das ist wie Fontane bei Effi Briest sagt „ein weites Feld!“

Also geht es weiter nun endlich nach Gransee. Die ehemalige Kreisstadt macht an diesem Samstag einen adretten aber verschlafenen Eindruck. Ich glaube sie ist nicht nur an diesem Samstag verschlafen. Man sieht kaum Menschen auf der Straße. Auf dem Weg zu meiner Unterkunft komme ich am Schinkelplatz vorbei. Karl Friedrich Schinkel entwarf hier im Auftrag der Stadt das sogenannte Luisendenkmal. Dieses Denkmal erinnert an die Aufbahrung der Königin Luise im Jahre 1810 in Gransee.

Luise von Mecklenburg-Strelitz starb am 19. Juli 1810 auf Schloss Hohenzieritz 34-jährig und sollte in Charlottenburg endgültig beigesetzt werden, wobei Sympathiekundgebungen der Bevölkerung die Überführung der vom Volk geliebten Königin Luise begleiteten. In der Nacht vom 25. auf den 26. Juli 1810 wurde Luises Sarg auf dem damaligen Marktplatz, dem heutigen Schinkelplatz der Stadt Gransee unter großer Anteilnahme der Bevölkerung aufgebahrt. Bald danach beantragte die Granseer Bürgerschaft beim König Friedrich Wilhelm III. die Erlaubnis ein Denkmal für das denkwürde Ereignis errichten zu dürfen. Der König stimmte zu, aber öffentliche Gelder wurden nicht bewilligt. Unter der Federführung des Landrats des Ruppinschen Kreises, Friedrich Christian Ludwig Emil von Zieten, begann eine erfolgreiche Spendensammlung, die 2.000 Taler einbrachte.

Theodor Fontane widmete dem Granseer Luisendenkmal ein umfangreiches Kapitel in seinen Wanderungen und beschreibt es genau:

Dies Denkmal nun, dessen Beschreibung wir uns in nachstehendem zuwenden, besteht aus einem Fundament und einem sockelartigen Aufbau von Stein, auf dem ein Sarg ruht. Über diesem Sarg, in Form eines Tabernakels, erhebt sich ein säulengetragener Baldachin. Die Verhältnisse des ganzen sind: 23 Fuß Höhe bei 13 Fuß Länge und 6 Fuß Breite. Der Sarg, in Form einer Langkiste mit zugeschrägtem Deckel, hat seine natürliche Größe; zu Häupten ruht eine vergoldete Krone; an den vier Ecken wachsen vier Lotosblumen empor. Die Inschriften am Kopf- und Fußende lauten wie folgt: Dem „Andenken der Königin Luise Auguste Wilhelmine Amalie von Preußen.“ – „Geb. den 10. März 1776, gest. den 19. Julius 1810. Nachts den 25. Julius stand ihre Leiche hier.“ Die Inschriften zu beiden Seiten des Sockels sind folgende. Links: „An dieser Stelle sahen wir jauchzend ihr entgegen, wenn sie, die herrliche, in milder Hoheit Glanz mit Engelfreudigkeit vorüberzog.“ Rechts: „An dieser Stelle hier, ach, flossen unsre Thränen, als wir dem stummen Zuge betäubt entgegen sahen; o Jammer, sie ist hin.“

Ich verweile auch hier eine Weile und versuche ein möglichst schönes Foto von dem Denkmal hinzubekommen. Die Lichtverhältnisse sind aber nicht mehr ideal, so dass ich morgen noch einmal hier vorbeikommen werde. Dann fahre ich weiter zu meiner Unterkunft, dass Landlust Hotel, das etwas außerhalb von Gransee an der an der B 96 liegt. Als ich in Sichtweite komme bin ich doch etwas erstaunt über das in die Jahre gekommene Gebäude und die verblichene Aufschrift Raststätte. Es ist meine bisher teuerste Unterkunft, von der ich mir etwas mehr versprochen hatte. Der Empfang ist im wahrsten Sinne des Wortes unpersönlich, denn ich habe einen Pin-Code zugesandt bekommen, der mir das Öffnen der Haustür und der Zimmertür ermöglicht. Als ich mein Zimmer betrete wird meine Enttäuschung noch gesteigert. Keine 10 qm ist das Zimmer groß, kein Tisch an den ich mich zum Schreiben setzen könnte und das Mobiliar schon sehr abgenutzt – und dass für ca. 90 €. So verärgert hole ich mein Gepäck vom Fahrrad und stehe vor meiner Zimmertür aber komme mit dem Pin, den ich dachte mir gemerkt zu haben, nicht rein. Also noch mal aufs Handy gucken. Aber wo ist das Handy? Gerade hatte ich es noch. Ich wühle in den Hosentaschen, schaue ins Gepäck, nirgends finde ich das blöde Ding. Ich gehe noch einmal zur Haustür schaue hinaus auf den neben meinem Fahrrad stehenden Tisch, aber das Handy ist nirgends zu sehen. Ich gehe noch einmal an die Zimmertür und versuche es noch einmal. Ich weiß sicher, dass die mittleren der sechs-Zahlen-Kombination 99 war, ich weiß auch, dass es eine Kombination 4 mit 1 oder zwei und eine Kombination mit 6 und 1 oder 2 war. In meiner Aufregung bekomme ich es aber nicht hin. Was tun?

Gerade kommt aus dem Nachbarzimmer eine junge Frau, die mit ihrer Familie auch mit dem Fahrrad unterwegs und auch gerade angekommen ist. Sie sind auch gerade mit auspacken Beschäftigt. Ich frage sie in meiner Verzweiflung, ob sie vielleicht ein Handy hier irgendwo gesehen habe. Sie verneint, macht aber sofort einen konstruktiven Vorschlag und meint ich solle ihr die Nummer sagen, dann würde sie mich anrufen. Gottseidank habe ich wenigstens meine Telefonnummer so in mein Gehirn eingespeichert, dass ich sie wohl nicht mehr vergessen werde. Sie wählt also die Nummer und es beginnt sehr nah zu klingeln und in meinem Rücken zu vibrieren. Ich fasse mir mit der Hand an die Stirn und nehme mit der anderen Hand das Handy aus der Rückentasche meines Fahrradshirts. Da ich dort sonst nie etwas hinein tue und mein Kurzzeitgedächtnis ziemlich fragil geworden ist, hatte ich es schlicht vergessen, dass ich es vorhin ganz gegen meine Gewohnheit dorthin gesteckt hatte. Mir ist das natürlich unheimlich peinlich und ich bedanke mich bei der Frau für ihre spontane Idee. Sie ist so freundlich, mir gut zu zu reden und versichert, dass ihr so etwas auch schon häufiger passiert sei. Dennoch kämpfe ich noch den ganzen Abend mit Zweifeln an mir, ob das nun die Anfänge der von mir so gefürchteten Altersdemenz sind.

Als ich mich dann in meinem Zimmer eingerichtet habe, so gut es eben geht, mache ich mich mit dem Fahrrad auf den Weg zu einem etwa zwei Kilometer entfernten Aldi, um mir ein Bier und eine Flasche Rotwein zu holen. Danach geht es zu Fuß in die Altstadt von Gransee, wo ich es mir im Biergarten des Gasthofs Huckeduster bei einem Schnitzel und einem Bier einigermaßen gut gehen lasse. Zurück spaziere ich dann am Geronsee entlang und erlebe einen wunderschönen Abendhimmel. Dann bin ich zurück in meiner ungastlichen Herberge, und muss den Wein aus dem Zahnputzglas trinken. – Übrigens, ich bilde mir immer noch ein, ein gutes Zahlengedächtnis zu haben und kann mir viele Pins ohne Probleme merken. Aber den Eingangspin des Landlust Hotels habe ich bis zum Ende meines Aufenthalts sehr selten korrekt auf die Reihe bekommen. Nun ja, inzwischen hatte ich ja mein Handy wieder, wo ich nachschauen konnte.

Tagesstrecke: 66,12 Km

 

 

Schreibe eine Antwort

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.