Nachdem das sich gestern ankündigende große Regengebiet heute Nacht über Jekabpils hinweggezogen ist, konnte ich den Tag doch relativ gelassen angehen. Nach dem Frühstück mache ich mich auf den Weg in Richtung Litauen. 50 Kilometer liegen vor mir bis zur litauischen Grenze, danach sind es noch einmal etwa 20 Kilometer bis zu meinem heutigen Ziel Rokjiskis. Zunächst mache ich aber noch eine kleine Stadtrundfahrt und werfe vor allem einen Blick in das Kloster zum Heiligen Geist, das einzige männliche orthodoxe Kloster in Lettland. Was übrigens hier in den Ortschaften auffällt. Die meisten Menschen strahlen keine Freundlichkeit aus. Wenn man sie grüßt, grüßen sie nicht zurück und gucken einen meistens nur griesgrämig an. Das gilt natürlich nicht für alle. Einige winken mir auch freundlich zu und strecken mir den gehobenen Daumen entgegen. Wenn sie mich etwas zu meiner Tour fragen wollen, kann ich natürlich leider meistens nicht antworten. Hier sprechen auf jeden Fall wenige Englisch und die, die Englisch oder eine andere Sprache sprechen, sind meistens ohnehin schon weg. Ich vermute es sind hier eher frustrierte Russen, die so griesgrämig wirken.
Danach geht es auf den sogenannten P-Straßen in Richtung Süden. Die Fahrt ist unproblematisch. Ich fahre auf mehr oder weniger gut asphaltierten Straßen meistens durch die mächtigen Wälder Lettlands. Meine sich positiver entwickelnde Sicht auf die Straßen in Lettland erhält dann aber noch einmal einen Dämpfer. Nach Akniste biegt die Straße zur litauischen Grenze ab und diese fünf Kilometer sind wieder Schotterstrecke. An der Grenze ist es dann mit dem Schotter endgültig vorbei. Die Litauer haben sich nicht lumpen lassen und ihre Zufahrtsstraße zur Grenze ist sehr gut asphaltiert.
Am Grenzübergang steht zwar ein Auto mit zwei Grenzbeamten aus Litauen, aber sie wollen nichts von mir und so mache ich auf dem Parkplatz erst einmal Mittagspause und lasse mich von einem kleinen Schauer besprühen. Mehr ist es Gott sei Dank nicht. Zwar habe ich von Weitem heute schon mehrere Regenschauer beobachten können. Aber die meisten sind dann vorbei, wenn ich dort hinkomme, wo sie niedergegangen sind. Nachdem ich mich gestärkt habe, gehe ich die letzten 20 Kilometer für heute an. Auch die laufen unproblematisch und meistens geht es wieder durch die Wälder. In Juodupe, dem ersten etwas größeren Ort in Litauen, sehe ich dann auch sehr schnell die Unterschiede zu Lettland. Die Häuser werden wieder gefälliger und auch farbiger. Ein anderer Unterschied wird deutlich. Ich bin wieder in einem katholischen Land. Überall hängen oder stehen Kruzifixe herum. Der Söder hätte seine wahre Freude.
In Rokiskis finde ich ohne Probleme mein Quartier. Es ist wieder ein Einfamilienhaus, was offensichtlich nicht mehr als solches gebraucht und daher vermietet wird. Ich bin wieder allein in dem Haus und kann bei einem Durchgang feststellen, dass man mir das hässlichste Zimmer gegeben hat bzw. ich mir bei booking.com ausgesucht habe. Die anderen wären allerdings auch doppelt so teuer gewesen. Was solls? Es ist für eine Nacht. Rokiskis ist aber ein ganz ansehnliches Örtchen. Zum einen gibt es hier ein sehr schön restauriertes Herrenhaus mit großem Park. Im 18.Jahrhundert ging die Herrschaft an die deutschbaltische Grafenfamilie Tyzenhaus (Tiesenhausen) über. In ihrer Zeit fand das Herrenhaus wohl auch sein heutiges Aussehen und es wurden Bauwerke errichtet, die die Stadt noch heute prägen. Herausragend ist dabei die 1868 bis 1883 errichtete Matthäus-Kirche, die als wichtigstes neugotisches Bauwerk Litauens gilt. Beeindruckend auch die schnurgerade Trasse vom Gutshaus zur Kirche über einen riesigen Platz vor der Kirche.
Das Abendessen nehme ich dann in einem kleinen Lokal am Rande des Platzes von Rokiskis ein, das mir mein Vermieter empfohlen hat, weil es offensichtlich sein eigenes ist. Das Essen ist aber ausgezeichnet und sehr preiswert. Auf dem kurzen Rückweg werde ich von einem sehr heftigen Schauer überrascht, kann mich aber rechtzeitig unterstellen. Es ist schon beeindrucken, was da in fünf Minuten an Wassermassen herunterkommen.
Tagesdaten: 72,83 Km; 05:52:39 Std. Fz.; 12,50 Km/h; 229 Hm
Lieber Wolfgang, ich bin nach wie vor ein begeisterter Follower, auch wenn ich mich über Deinen Blog nicht gemeldet habe, d.h. Ich habe einen ausführlichen Kommentar verfaßt, der aber leider im Nirwana verschwunden ist. Inhalt waren meine Gedanken zur täglichen Motivation des „einsamen Fahrradwanderers durch die ziemlich menschenleeren Weiten Finnlands“. Vielleicht sehe ich das auch völlig falsch und Du mußt Dich garnicht täglich neu motivieren, sondern das einmal geplante Ziel ist so tief verankert, daß jeder Tag nur als Bestätigung und nicht als Herausforderung gesehen wird. Vielleicht ist es ja auch Beides und ich stelle mir die Aufgabe viel schwieriger vor als Du sie erlebst. Das ist wahrscheinlich auch meinen bescheidenen Leistungen auf dem Fahrrad geschuldet, die erst in diesem Jahr zum ersten Mal abgerufen wurden. 360 km den Neckar und ungefähr genau so weit die Saar und die Mosel. Dabei waren die größten Tagesetappen 77,3 km und ich war ziemlich platt. Wenn ich keine Begleitung gehabt hätte, wäre ich vielleicht ausgestiegen oder hätte verkürzt. Und dann Deine Etappen mit gelegentlich über 100 km und ordentlich Gepäck. Immer wieder große Bewunderung.
Dann denke ich zurück an Deine Donaureise und die geschilderte Einsamkeit des Fernradfahrers. Wird die nicht noch intensiver erlebt wenn man stundenlang ziemlich geradeaus auf Asphalt radelt und nur dem Rentier begegnet, mit dem man sich nicht einmal unterhalten kann? Wie erlebt man denn die Realität, wenn man in der Vorbereitung der Reise eine bestimmte Vorstellung von dem hat, was es zu sehen und zu erkennen gibt? Vor allem wenn die Realität nicht den Vorstellungen entspricht? Oder stellen sich auf solch langen Reisen Automatismen ein und die Freude liegt in der täglichen Herausforderung, sei es bezüglich der Qualität der Strecke oder der Unterkunft inklusive des Frühstücks?
Ich hoffe, ich langweile Dich nicht mit meinen Fragen. Doris und ich grüßen Dich ganz herzlich aus der Toscana .
Eine interessante und störungsfreie Weiterfahrt und ganz herzliche Grüße
Werner
Lieber Werner, schön mal wieder von Dir zu hören. Ich finde es gut, dass Du jetzt das Fahrrad für Dich entdeckt hast. Nach den ersten Anstrengungen sollte man allerdings nicht aufgeben. Die Kondition kommt beim Fahren und auch das Gesäß gewöhnt sich mit der Zeit an jeden Sattel.
Was meine Motivation betrifft, ist das sicher eine vielschichtige Sache. Neben vielen anderen kleineren und größeren Motivationsfaktoren ist sicherlich am wichtigsten, dass mir diese Reisen eine persönliche Bestätigung einer gewissen Fitness und Leistungsfähigkeit bereiten. Aber ich gestehe, dass auch ich Tage habe, wo ich mich frage, warum tust du dir das eigentlich an. Wenn Du aber irgendwo mehrere tausend Kilometer von zu Hause weg bist, ist das Abrechen einer solchen Tour auch nicht so einfach. Außerdem wäre es ein erheblicher Verlust an Bestätigung und ich mache keinen Hehl daraus, das würde meiner Eitelkeit einen argen Dämpfer verpassen. So war es ja auch nach dem Abbruch meiner Tour letztes Jahr in Belgrad wichtig, diese Tour ans Schwarze Meer in diesem Jahr zu beenden.
So nun aber erst einmal herzliche Grüße auch an Doris in die Toskana. Anfang September werde ich wieder zu Hause sein, worauf ich mich jetzt auch sehr freue.
Wolfgang