Diesen Tag werde ich sicher nicht so schnell vergessen. Aber beginnen wir mit den angenehmen Seiten. Als ich aufwache ist strahlend blauer Himmel und auch die Wetter-App sagt einen heiter bis wolkigen Tag voraus mit wenig Schauern. Das Frühstück im Parkhotel Bruzi ist wirklich ausgezeichnet. Ich bekomme zum ersten Mal auf meiner gesamten Reise zum Frühstück mehr als eine Sorte Wurst und Käse präsentiert und die Wurstsorten sind wirklich sehr schmackhaft. Beim Frühstück treffe ich noch Dörte und Kurt, die beiden Fahrradtouristen aus Frankfurt. Dörte hat meinen vorgestrigen Bericht gelesen und legt doch Wert auf die Korrektur, dass sie ihr Gepäck selbst mittransportieren, dass sie nur die Hotels auf einer weitgehend angebotenen Route vorbestellt haben. Die Unterhaltung mit den beiden ist immer sehr angenehm. Ihr Weg führt heute allerdings nach Westen in Richtung Riga, meiner führt nach Süden.

Obwohl die Prognosen Temperaturen von nur noch 20 Grad ansagen, habe ich mich dafür entschieden, meine Sommersachen anzubehalten. Habe heute sogar frische Klamotten angezogen. Ich brauche unbedingt eine Gelegenheit, in den nächsten Tagen wieder einmal Wäsche zu waschen, aber ich habe da auch schon ein Quartier im Auge.

Als ich dann mein Gepäck auflade, stelle ich fest, dass der Himmel sich zugezogen hat und aus Westen sehr dunkle Wolken heranziehen. Ein Blick auf meine App beruhigt mich aber. Ich müsste das Regengebiet, wenn ich überhaupt hineinkomme, schon bald hinter mir lassen. Also mache ich mich auf den Weg. Es wird heute eine etwas anstrengendere Tour mit 80 Kilometern und etwa 500 Höhenmetern Steigungen. Die Steigungsangaben meines Navis sind aber meist recht knapp bemessen.

Als ich aus Smiltene herauskomme und auf eine Straße einbiege, entpuppt sich diese als Schotterpiste. So geht es über 7 Kilometer und es beginnt zu regnen. Ein Vergnügen ist das nicht und es kann ja eigentlich nur besser werden – dachte ich! Allerdings dauert der Regen mit unterschiedlicher Intensität etwa drei Stunden und ich bin bald völlig durchnässt. Mein Regenanorak und die Regenhose wären einfach zu warm gewesen und ich hätte ohnehin mich nassgeschwitzt. Bei meinen Funktionsklamotten bin ich immer wieder erstaunt wie schnell sie nach einem Regen wieder trocknen. Nach einer kurzen Asphaltstrecke geht es dann wieder über Schotter- Wald und Feldwege und meine Hoffnung es könne nur noch besser werden, verkehrt sich ins Gegenteil.

Um es zusammenzufassen, eine solche Tour habe ich überhaupt noch nicht gemacht und ich habe auch noch nie erlebt, dass in einem Land ein ausgewiesenes Straßennetz überwiegend aus Schotterstraßen besteht. Ich werde bis an mein Ziel nun auf solchen Wegen weiterfahren, was natürlich für mein Gleichgewichtsorgan eine Herausforderung ist. Außerdem kostet es viel Zeit, denn über eine Durchschnittsgeschwindigkeit von neun Kilometern komme ich nicht hinaus. Dabei fahre ich noch durch das hier sehr ausgeprägte Moränen-Hügelland. Es geht also immer auf und ab. Auf den Pisten muss ich immer aufpassen, einen Streifen auf der Fahrbahn zu erwischen, auf dem es nicht allzu sehr ruckelt. Bei den Abfahrten ist das oft ein Problem und so kann ich da auch nicht viel schneller fahren als bergauf. Das führt dazu, dass ich letztlich die gesamte Breite der Straßen für mich in Anspruch nehme. Wenn ein LKW oder auch ein PKW entgegenkommt, was Gott sei Dank nicht allzu häufig passiert, muss ich schnell an irgendeine Seite fahren. Bei dieser Tour rächen sich natürlich auch die Algorithmen meines Navi-Systems, das bei Radtouren Hauptstraßen vermeidet und möglichst die kürzesten Wege sucht. Immerhin sind 68 Kilometer als asphaltierte Straße, noch nicht einmal als Nebenstraße ausgewiesen. Was das Programm allerdings unter Asphalt versteht, bleibt mir heute verschlossen.

Ein anderes Problem, da ich heute Abend wieder ein kleines Ferienhaus gebucht habe, bin ich Selbstversorger und muss für heute Abend noch etwas einkaufen. Ein Blick auf die Karte zeigt mir, dass ich durch keine nennenswerten Ortshaften komme, lediglich durch kleinere Dörfer und so werde ich immer nervöser und freue mich als ich nach etwa 40 Kilometern bei Abrupe – den Ort muss man sich nicht merken – einen kleinen Tante-Emma-Laden sehe. Er ist wirklich sehr klein und auch sehr überschaubar. Aber ich finde geschnittenes Brot, einen Schmierkäseaufstrich, ein Fruchtjoghurt und sogar zwei Dosen Bier. Die Wurst und das Obst lasse ich dann doch lieber liegen.

Auf dieser Tour merke ich doch die starken Unterschiede zwischen Estland und Lettland. Estland wirkt viel adretter, freundlicher und wirtschaftlich erheblich weiterentwickelt. Das gilt sicher nicht beim Vergleich zwischen Riga und Tallinn, wird aber deutlich, wenn man hier über das Land fährt. Beim Human Development Index lässt innerhalb der EU Lettland nur noch Rumänien und Bulgarien hinter sich. Lettland wirkt aber nicht ungepflegt, sondern einfach ärmer. Schon bei den Holzhäusern gibt es Unterschiede. In Estland sind sie meist bunt und mit fröhlichen Farben gestrichen. Hier in Lettland habe ich auf dem Land noch kein gestrichenes Holzhaus gesehen. So strahlen sie das Grau und Anthrazit aus, das unbehandeltes Holz nach einer gewissen Zeit annimmt. Ansonsten ist die Landschaft viel hügeliger als in Estland. Der Blick ins Land erinnert mich gelegentlich an die Landschaftsbilder von Caspar David Friedrich, die ja durchaus ihren Reiz haben. Landschaftlich wirkt Lettland insofern durchaus spannender als Estland.

Die letzten 10 Kilometer und die Zufahrt zu meinem heutigen Ziel sind dann noch einmal eine besondere Herausforderung. Der Weg wird nun auch noch sandig und später matschig. Das Haus selbst ist sehr schön und einsam gelegen. Es ist eigentlich ein stattliches Einfamilienhaus mit einem traumhaften fast parkähnlichen Gartengrundstück. Aber als ich kurz vor 19 Uhr gerade noch innerhalb der von mir angegebenen Zeitspanne ankomme ist niemand anwesend. So rufe ich unter der angegebenen Telefonnummer an und eine Frau antwortet mir in etwas gebrochenem Deutsch, dass sie sofort losfahre und gleich komme.

Nach etwa fünf Minuten kommt ein dunkler Mercedes C 180 mit einem älteren Ehepaar. Der Man wirkt etwas kurios mit einem Bart, der mich an Asterix den Gallier erinnert und einer Camouflage-Jacke und -Hose der Bundeswehr mit dem deutschen Flaggenzeichen am Ärmel. Er hat auch offensichtlich schon dem Alkohol etwas zugesprochen und ist entsprechend fröhlich. Beide sprechen ganz ordentlich deutsch, was für mich natürlich hilfreich ist. Ihrer Tochter, der offensichtlich das Haus gehört, lebt mit ihrem Mann in Deutschland und arbeitet als Apothekerin in Hameln. Daher vermietet sie das Haus als Ferienhaus über booking.com. Mit dem Geschäftlichen haben die Eltern offensichtlich nichts zu tun, interessieren sich aber sehr für den Preis, den ich bezahlt habe. Ich habe natürlich keinen Grund, ihnen diese Auskunft zu verweigern.

Dann beginnt die Frau mir etwas aufwändig das Haus zu erläutern, obwohl ich ja den Aufbau von Häusern durchaus schon verstehe und auch in der Regel weiß, wo ich die Lichtschalter finde. Da ich nach der Fahrt doch ziemlich k.o. bin, versuche ich die Erläuterungen abzukürzen, was erfolglos bleibt. Als sie schon im Gehen sind und selbst ihr Mann ungeduldig wird, kommt sie noch einmal zurück und zeigt mir wie ich die an einem einfachen Haken offen gehaltene Haustür von dem Haken befreie. Nun habe ich auch das verstanden.

Das Haus ist eigentlich sehr chic, könnte aber etwas sauberer sein. Etwas unangenehm ist, dass der Abfluss der Dusche verstopft ist, dass es keine Mülleimertüten gibt und auch die übrigen sanitären Anlagen mal wieder einer Grundreinigung bedürften. Nach dem ich geduscht habe, merke ich wie mich die Erschöpfung und Müdigkeit überfällt. Ich bin zu nichts mehr fähig. Weder das Brot noch das Bier schmecken mir. So falle ich nach einem kurzen Telefonat mit Heidrun in einen Tiefschlaf, der wohl auch notwendig ist.

Tagesdaten: 81,79 Km; 08:25:32 Std. Fz.; 9,70 Km/h; 490 Hm

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