39.+40. Tag: (16.+17. April 2024) – Calais

Die letzten beiden Tage meines Aufenthalts in Frankreich. – Zunächst war ich damit beschäftigt, mich um meine Rückfahrt mit dem Zug nach Hause zu kümmern. Auf der App der SNCF, der Nationalen Gesellschaft der Französischen Eisenbahnen, kam ich nicht weiter. Sie kannte keine Züge die von Calais aus Fahrräder mitnehmen. Das Problem der Buchung von Fahrradmitnahmen in Zügen scheint nicht nur in Deutschland problematisch (gewesen) zu sein, sondern auch in anderen Ländern. Ich ging also zum Bahnhof und siehe da, die Dame am Schalter fand auch erstmal keine Verbindung. Ich nehme an es liegt daran, dass der Computer gleich auf die Züge, die durch den Eurotunnel kommen, zugreifen will und die keine Fahrräder mitnehmen, warum auch immer. Man muss also den Umweg über Amiens wählen und damit durch die Geburtsstadt des französischen Präsidenten fahren, dann klappt es mit diesem Umstieg von Calais nach Paris zu gelangen. Dort muss ich dann aussteigen, vom Gare du Nord mit meinem Fahrrad zum Gare du Est fahren, um dort in den Zug nach Strasbourg zu steigen.

Bis ich die Fahrkarte nach Strasbourg dann hatte, war eine dreiviertel Stunde vergangen und hinter mir hatte sich eine lange Schlange gebildet. Den Rest der Fahrt nach Leipzig, will ich dann doch lieber selber über die DB-App buchen, mit deren Eigenheiten ich mich inzwischen besser auskenne und die ihr System inzwischen auch etwas optimiert hat. So kann man jetzt ohne Probleme Reisen mit dem Fahrrad in Fernzügen buchen.

Das Wetter in Calais ist zur Zeit sehr unterschiedlich. Zwar ist es mit knapp unter 10 Grad dauerhaft kühl, es gibt auch häufiger Regenschauer und es bläst ständig eine kräftige Briese Wind, was sich dann noch kühler anfühlt, aber es scheint dabei auch recht häufig die Sonne. Wie las ich heute morgen so schön in einer Zeitung. Das ist schon blöd mit dem Klimawandel. Jetzt gibt es doch tatsächlich im April Aprilwetter. Ich versuche also meine Spaziergänge durch Calais in die Sonnenscheinphasen zu legen, was meistens auch gelingt.

Ich will hier nicht auf die wechselvolle Geschichte Calais eingehen, die über Jahrhunderte ein Spielball der Auseinandersetzungen zwischen Frankreich und England wurde und damit das gleiche Schicksal wie Boulogne-sur-Mer und auch das noch etwas weiter östlich gelegene Dunkerque, was bei uns ja eher unter dem Namen Dünkirchen Bekanntheit erlangte. Die drei Städte standen neben dieser Spielballrolle zwischen Frankreich und England aber auch untereinander in einer ständigen Konkurrenz, weil sie sich natürlich als Drehscheibe für den Handel Englands mit dem Kontinent begriffen. Zwar hatte Calais nicht immer die Nase vorn, aber geografisch doch die besten Voraussetzungen, weil von hier bis zu Südküste Englands die engste Stelle des Ärmelkanals ist. Kein Wunder,  dass auch die 1994 eröffnete Eisenbahnlinie durch den Eurotunnel nahe Calais unter dem Ärmelkanal hindurchführt.

Calais war im Ersten Weltkrieg der Haupthafen der englischen Armee in Frankreich. Während des Zweiten Weltkriegs wurde es am 25. Mai 1940 (Westfeldzug) von Truppen der Wehrmacht erobert. Im Verlauf des Kriegs kam es zu großen Zerstörungen. Zuerst wurde die Stadt von der Luftwaffe der deutschen Wehrmacht und später von den Westalliierten bombardiert. Das Ende September 1944 zurückeroberte Calais (Operation Undergo) erlitt im Februar 1945 zusätzlich ein schweres irrtümliches Bombardement, als britische Bomberpiloten eigentlich Dünkirchen bombardieren wollten, das noch bis zur Kapitulation am 8. Mai 1945 von der Wehrmacht gehalten wurde. Einen Wiederaufbau der historischen Innenstadt von Calais gab es kaum.

Wirtschaftliches Zentrum von Calais ist natürlich sein Hafen. Calais verzeichnet als Hafenstadt und Ausgangspunkt zu Kanalüberquerungen jährlich 30 Millionen Durchreisende. In den letzten Jahrzehnten sind jedoch viele Arbeitsplätze in den Bereichen Fischerei, Textilindustrie und Schifffahrt verloren gegangen. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 15 %. Durch Touristen aus England, den booze cruisers (Alkohol Kreuzfahrer), die billig Alkohol und Zigaretten kaufen, profitiert der Tunnel-Terminal bei Sangatte, ein riesiger Einkaufskomplex neben dem Eurotunnel.

Der Hafen von Calais ist auch ein wichtiger Handelshafen. Der Güterverkehr hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten verdreifacht. Die Prognosen in diesem Bereich für die kommenden Jahre und Jahrzehnte sind mehr als optimistisch. Im Jahr 2007 wurden mehr als 41,5 Millionen Tonnen durch Calais umgeschlagen, womit Calais den 4. Platz in der Rangliste der französischen Handelshäfen hinter Marseille, Le Havre und Dünkirchen belegt. Mit insgesamt 1.850.000 umgeschlagenen Lastkraftwagen spielt der Hafen von Calais mit seiner modernen Infrastruktur, die an das Ent- und Beladen von Roll-on/Roll-off-Fracht angepasst ist, eine wichtige Rolle im Handel mit dem Vereinigten Königreich.

Durch das Projekt Mission 2012 wurden Investitionen von 100 Millionen Euro in touristische Infrastrukturen geplant. Insbesondere ein Teil der Besucher der Olympischen Spiele 2012 in London sollte so angezogen werden. Die Stadt Calais etablierte 2013 in dem stadteigenen Einkaufscenter Centre Commercial ein Kunst- und Kulturhaus mit Einkaufsmöglichkeiten. Die Einkaufsmöglichkeiten fallen einem gleich ins Auge. Die Kultur muss man wohl erst länger suchen.

Was mir aber auffällt ist der Name der Straße vor dem Einkaufs- und Kulturzentrum. Es ist immerhin eine der Magistralen der Stadt die den Namen Boulevard Jacquard trägt. Noch verwunderter bin ich als ich vor dem Theater ein Denkmal für einen Herren gleichen Namens sehe. Ich habe den Namen bisher noch nie gehört oder gelesen.  Natürlich werde ich in Wikipedia fündig und erfahre, dass Joseph-Marie Jacquard ( * 7. Juli 1752 in Lyon; † 7. August 1834 in Oullins) ein französischer Erfinder war, der durch seine Weiterentwicklung des (programmierbaren) Webstuhls entscheidend zur industriellen Revolution beitrug. Die Errichtung des Denkmals 1910 und die Benennung des Boulevards nach Jacquard soll wohl daran erinnern, dass dessen Erfindung zur Entwicklung der Spitze beitrug, die Calais lange Zeit reich und berühmt gemacht hat. Die Jacquard-Steuerung ist eine frühe Anwendung der Digitaltechnik. Dieser Webstuhl war die erste „programmierbare“ Maschine, deren Steuerung (nach einer Umrüstung der Maschine für ein anderes Muster) dauerhaft aufgehoben und später erneut verwendet werden konnte. Sie ist damit ein Grundstein zur heutigen Automatisierung. Und für die sächsischen Leser: Noch heute werden in der früheren Möbelstoff-Weberei Cammann & Co., heute Cammann Gobelin Manufaktur in Braunsdorf bei Chemnitz, Jacquard-Stoffe auf 60 Jahre alten Chemnitzer Schönherr Webstühlen mit Lochkarten nach dem Prinzip von Joseph-Marie Jacquard hergestellt. Was man in Calais so alles erfährt.

Bei meinen Rundgängen durch Calais finden vor allem drei historische oder rekonstruierte Bauwerke mein besonderes Interesse. Das ist einmal das Rathaus von Calais, das im Stil der flämischen Renaissance erst 1910 bis 1922 erbaut wurde. Es hat einen Belfried (Glockenturm), der wie 21 weitere Glockentürme der Region zum Weltkulturerbe gehört. Auf dem Platz vor dem Rathaus steht das Denkmal Les Bourgeois de Calais („Die Bürger von Calais“) von Auguste Rodin. Es wurde 1895 geschaffen. Das Denkmal hatte ich ja schon bereits im Rodin-Museum in Paris gesehen. Jetzt hier in Calais strahlt es natürlich seine besondere Wirkung aus. Weitere historische Gebäude sind das schon erwähnte Theater und die Kirche Notre-Dame, über die ich allerdings wenig in Erfahrung bringen kann.

Ein Highlight war dann für mich noch heute morgen ein kurzer Spaziergang am Strand. Es war sonnig und sehr klar, wenn auch durch den Wind bitter kalt. Ich wunderte mich, dass mehrere Männer mit hochwertigen Kameras auf dem Sandstrand knieten oder lagen bis auch ich das Objekt für ihre Kameras erblickte. Am Horizont  war ein weißer Streifen zu sehen. Es sind die weißen Klippen von Dover, die man hier bei gutem Wetter sehen kann. Auch ich habe sie dann mit meinem iPhone eingefangen, allerdings sicher nicht so scharf wie mit einer professionellen Kamera. Dennoch ein schöner Ausklang meines Besuches in Calais.

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