37. Tag: 24. Mai 2023: Von Korczowo nach Przemysl

Heute also mein letzte Fahrradetappe auf dieser Tour. Das Frühstück im Motel Panorama ist eher dürftig, aber ich scheine auch der einzige Gast zu sein. Zum Abschied macht die Besitzerin noch einige Fotos von mir, dann geht es weiter. Einziges Highlight heute ist noch die ehemals griechisch-katholische Holzkirche in Chotyniec. Leider muss ich ein paar Umwege fahren, weil die Waldwege wegen Waldarbeiten unpassierbar sind. So verlängert sich der ursprünglich geplante Weg nach Chotyniec von 10 auf 16 Kilometer. In Chotyniec ist die Holzkirche unschwer zu finden. Sie steht an herausragender Stelle auf einem Hügel, der mit einer Rasenfläche bedeckt ist die Kirche selbst ist von Bäumen umgeben. Es ist ein recht pittoresker Anblick. Die Kirche mit dem Namen „Geburt der Allerheilgsten Gottesmutter“ gehört zu den acht polnischen Kirchen, die ins UNESCO-Weltkulturerbe „Holzkirchen der Karpatenregion“ aufgenommen wurden. Anders als in Radurz gibt es hier keine sichtbare Information für Touristen. Zunächst mache ich daher erst mal einen Rundgang um das Kirchengebäude und muss sagen, dass ich sie architektonisch schon von außen für noch attraktiver halte als die Kirche in Radurz. Von der Architektur erinnert sie eher an die Kirche Nowe Brusno.

Bei meinem Rundgang höre und sehe ich dann einen Mann, der gerade den riesigen Rasen um das Gebäude mäht. Er scheint damit auch bald fertig zu sein. Als ich ihn von der Kirche aus anrufe, hört er mich allerdings nicht. So gehe ich ihm entgegen und wir verständigen uns durch Zeichensprache. Ich deute ihm an, dass ich in die Kirche hinein möchte und er nickt und deutet mir an, dass er noch den Rasen zu Ende mähen möchte. So lasse ich es geschehen, denn es kann nicht mehr allzu lange dauern. Überbrücken wir also die Zeit mit dem, was ich im polnischen Wikipedia über die Kirche lesen kann. Für alle die, die sich fragen oder mich gefragt haben, ob ich inzwischen polnisch gelernt habe – leider nein. Aber bei Wikipedia kann ich zumindest an meinem Surface to go einstellen, dass mir ausländische Wikipedia-Seiten übersetzt werden. Eine höchst praktische Einrichtung, die meinen Horizont, was Polen betrifft, gewaltig erweitert hat.

Die Kirche wurde bereits 1615 gebaut und gehört damit zu den ältesten noch erhaltenen griechisch katholischen Holzkirchen. Die Kirche ist eine der wenigen noch aktiven griechisch-katholischen Kirchen in Polen, die den Krieg und die mit den Deportationsaktionen verbundene Liquidierung nach dem Krieg glücklich überstanden haben. Ursprünglich könnte es sich um ein dreiteiliges Gebäude mit zwei oder drei Kuppeln auf Tamburas gehandelt haben. Über der Frauenempore befand sich eine Verkündigungskapelle mit Außenempore. Die Kirche erfuhr zahlreiche Renovierungen und bedeutende Umgestaltungen in den Jahren 1733, 1858 und 1925. Nach den Vertreibungen 1947 wurde sie geschlossen und dann der römisch-katholischen Kirche übergeben. In den 80er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts wurde sie wegen des schlechten technischen Zustands wieder geschlossen. Im Jahr 1990 wurde die Kirche vom ursprünglichen Besitzer – der griechisch-katholischen Kirche – übernommen. Dann wurde es wieder eine Kirche der wiedergeborenen griechisch-katholischen Pfarrei. In den Jahren 1991-1994 wurde eine umfassende Renovierung des Gebäudes durchgeführt, hauptsächlich durch die Bemühungen der örtlichen Gemeindemitglieder.

Die Kirche zeichnet sich durch eine originelle, sehr harmonische Form aus. Es handelt sich um ein einschiffiges, vierteiliges Gebäude, das vollständig aus Holz besteht und eine Blockkonstruktion aufweist. In der inneren Teilung werden Chor, Langhaus, Babiniec (Vorraum) und Vestibül (Eingangshalle) unterschieden. Der Chor, das Kirchenschiff und die Babiniec sind mit Kuppeln auf achteckigen Trommeln und das Vestibül mit einem Satteldach bedeckt. Die Babiniec hat drei Stockwerke und der Chor hat zwei. Die Seitenwände des zweiten Obergeschosses der Frauenempore werden von Arkadengalerien gebildet. Unter der Traufe des Untergeschosses gibt es Samstage. Samstage sind dabei niedrige Arkaden, die auf Pfählen ruhen und mit einem Pultdach bedeckt sind und Holzkirchen oder orthodoxe Kirchen umgeben, die ganz oder teilweise umrandet sind, eine Säulenstruktur haben und im unteren Teil in der Regel mit einer Balustrade vernagelt oder eingezäunt sind. Der hölzerne Glockenturm aus dem siebzehnten Jahrhundert wurde 1993 aus dem Dorf Torki in der Nähe von Medyka verlegt. Der ursprüngliche Glockenturm wurde im Ersten Weltkrieg zerstört.

Soweit zur äußeren Architektur der Kirche, die man hoffentlich auf meinen Fotos nachvollziehen kann. Inzwischen ist der, ich nenne ihn mal Gärtner mit seiner Mäharbeit fertig, wischt sich den Schweiß von der Stirn, zieht sein Hemd aus, um es von dem Gras auszuschütteln, was beim Mähen mit dem elektrische Handdrahtmäher aufgewirbelt wurde, zieht es wieder an und nimmt nun einen unscheinbaren Sicherheitsschlüssel aus der Tasche, mit dem er die Tür zum Vorraum aufschließt. Dann holt er aus einer Schublade einen etwa 30 cm langen alten Schlüssel, mit dem er die alte Tür zur Babiniec aufschließt und dann stehe ich vor einer weiteren beeindruckenden Ikonostase. Noch beeindruckender ist allerdings die gut erhaltene Malerei aus den Jahren 1735 und 1772  mit einem besonders interessanten Gemälde Das Jüngste Gericht an der Südwand des Kirchenschiffs.

Zunächst aber zu der Ikonostase. Nach Jahren der Vernachlässigung ist die Ausstattung der Kirche wohl unvollständig, aber die kürzlich renovierte Ikonostase ist erhalten geblieben und stammt  wahrscheinlich aus dem Jahr 1671. Inzwischen habe ich mich auch ein wenig mit der Funktion und dem Aufbau einer Ikonostase vertraut gemacht. Ikonostasen sind in den östlichen christlichen Kirchen der byzantinischen Tradition eine dekorative Trennwand aus Stein, Holz oder Metall, die mit Ikonen im Inneren der Kirche bedeckt sind und sich zwischen dem Altarplatz und dem Kirchenschiff (Naos) befindet, das für die Gläubigen bestimmt war. Die Ikonostase besteht aus drei Türen und einem Bildprogramm, das mehr oder weniger strikt vorgegeben ist. In der Mitte über der sogenannten Königlichen Tür, also sozusagen im Zentrum der Ikonostase, hängt eine Ikone von Jesu Christi in Gestalt nach seiner Auferstehung.

Die Ikonostase besteht zumindest aus der königlichen Tür und den Ikonen darüber, den Ikonen links und rechts neben der königlichen Tür, der südlichen Tür und der nördlichen Tür. In größeren Kirchen können sich nach oben und nach außen weitere Ikonen anschließen. Bei den beiden Holzkirchen in Radruz und hier in Chotyniec scheint es sich um größere Kirchen zu handeln, denn sie haben ähnlich große, das Grundmuster durch zahlreiche Ikonen ergänzende Ikonostasen. Die Ikonostase ist ein wichtiger Bestandteil der orthodoxen Liturgie. Die Ikonenabbildungen sind auf der Ikonostase hierarchisch geordnet angebracht. Die Ikonostase trennt nicht bloß die göttliche von der erschaffenen Welt, sondern ist auch ein Abbild der himmlischen Kirche mit Jesus Christus als Haupt.

Die mittlere Tür wird als „Heilige“ oder „Königstür“ bezeichnet und wird vom Bischof und den Priestern benutzt, um in den Altarraum einzuziehen. Die linke Tür führt in den Raum für die Opfergaben des Volkes (Prothesis), von wo sie in feierlichem Einzug zum Altar gebracht werden. Die rechte Tür ist das Diakonikon. Das Diakonikon ist ein Nebenraum von Kirchengebäuden im christlichen Orient, der mit der westlichen Sakristei zu vergleichen ist. In den orthodoxen und östlichen katholischen Kirchen ist es eine Kammer auf der Südseite der zentralen Apsis der Kirche, in der die Gewänder, Bücher usw. aufbewahrt werden, die bei den Gottesdiensten der Kirche verwendet werden.

Hier Chotyniec sehe ich ähnlich wie in Radruz folgende Ikonenanordnung. Rechts und links der Christus-Ikone sind jeweils sechs Ikonen mit den zwölf Aposteln. Unter der Christus-Ikone noch einmal der Kopf des Christus und darunter eine Ikone des letzten Abendmahls. Rechts und links davon kleinere Ikonen mit Geschichten aus dem Leben Christi und eventuell anderen biblischen Geschichten. Links von der Heiligen Tür die Namensgeberin der Kirche Maria mit dem Kind und rechts der Tür meines Erachtens noch eine weitere Christus-Ikone. Auf der linken und Rechten Tür befinden sich die Ikonen zweier Engel. Einer stellt meist den Erzengel Gabriel der andere den Erzengel Gabriel dar. Soweit im Groben der Aufbau der hiesigen Ikonostase.

Sehr beeindruckt hat mich neben der Ikonostase die Wandbemalung mit dem Jüngsten Gericht. Ich glaube ich brauche sie hier nicht näher zu beschreiben, die Bilder sprechen weitgehend für sich.

Nach etwa einer halben Stunde bin ich mit meiner Besichtigung fertig, bedanke mich bei dem Gärtner und hinterlasse noch ein Spende für den Erhalt der Kirche.

Dann geht es weiter. Bis zu meinem Ziel Przemysl sind es noch etwa 30 Kilometer. Ab Nakto geht es etwa 7 Kilometer auf einer Schotterpiste bis zum San, der hier bei Niziny überquert wird. Hier wurde vor einigen Jahren für den Green Velo eine Fußgänger und Radfahrer-Brücke gebaut. Inzwischen wird in mehrfach unfassbarer Planungen direkt neben dieser Brücke, also in einem Abstand von ein bis zwei Metern eine Autobrücke gebaut. Unfassbar ist das Ganze, weil diese beiden Brücken in keiner Weise miteinander harmonieren. Unfassbar ist aber auch, dass die Autobrücke nun auf den Schotterweg führt, den ich gerade befahren habe und auch nicht erkennbar ist, dass hier in absehbarer Zeit eine Straße gebaut werden soll. Aber natürlich ist der Brückenbau auch aus EU-Mitteln gefördert.

Die weitere Fahrt ist nicht weiter interessant und führt meistens auf einem straßenbegleitendem Radweg nach Przemysl und so komme ich nach 1825 Kilometern am Ziel meiner Reise an. In Przemysl habe ich ein kleines Apartment direkt am Marktplatz und nur wenige Meter von der Kirche der Hl. Maria Magdalena und der Unbefleckten Jungfrau Maria und dem angrenzenden Franziskanerkloster entfernt. Von außen sieht das Haus noch renovierungsbedürftig aus, innen sind aber bereits mehrere zweckmäßig und hochwertig gestaltete Apartments entstanden. Leider habe ich etwas zu spät gebucht, denn ich bekomme nur noch das kleinste und auch dunkelst der Apartments, was nur Fenster zu einem engen und damit wenig lichten Innenhof hinaus hat. Auf meine Frage hin, ob ich nicht doch noch ein anderes Apartment bekommen könnte, bemühen sich der vermietende Sohn und sein Vater zwar und zeigen mir auch ein wirklich schönes großes Apartment mit direktem Blick auf den Marktplatzt, aber leider stellt sich dann im Verlauf des Gespräches heraus, dass dieses schon ab Freitag wieder gebucht ist und ich ja bis Samstag bleiben möchte. Nun sei es drum. Zunächst einmal freue ich mich, dass ich das Ziel meiner Reise erreicht habe und weder erkrankt bin noch mich verletzt bin.

Nachdem ich mich eingerichtet habe, mache ich einen ersten Spaziergang durch die Stadt.

Tagesstrecke: 51,25 Km; 12,98 Km/h; 232 Hm

 

Spaziergang im Przemysl

Wie immer zunächst ein paar kurze Streiflichter zur Geschichte Przemysls. Die Stadt hat heute etwa 60 Tsd. Einwohner. Die Stadt liegt verkehrsgünstig an der Grenze zwischen Polen und der Ukraine und ist Grenzbahnhof der Bahnstrecke Lwiw–Przemyśl. Damit ist die Stadt seit dem Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine am 24. Februar 2022 einer breiteren internationalen Öffentlichkeit bekannt geworden. Przemyśl ist Fluchtpunkt vieler Ukrainer. Hierfür wurde in der Halle eines Supermarkts ein Durchgangslager mit einer Kapazität von mehr als 1000 Plätzen eingerichtet, von dem aus der Weitertransport und die Verteilung der mit Bahn, Bussen und privaten Verkehrsmitteln an der Grenze ankommenden Flüchtlinge organisiert wird. Ich selbst bekomme wegen meiner Sprachbarriere wenig von den Ukrainern unmittelbar mit. Am Bahnhof erlebe ich dann aber wie es doch zahlreiche Anlaufstellen für Ukrainer gibt bis hin zu einer Ausgabe von Lebensmitteln und Getränken für die Weiterfahrt in andere Regionen.

Nun aber zur Historie der Stadt. Przemysl kam 1772 nach der Ersten Teilung Polens zum Kronland Galizien der Habsburgermonarchie. Es ist also die erste Stadt auf meiner Tour, die nicht entweder preußisch oder russisch durch die polnische Teilungen wurde, sondern erstmals österreichisch. In den letzten Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg wurde die ganze Stadt zu einer Festung gegen die sich entwickelnde Bedrohung durch das Russische Kaiserreich ausgebaut (äußerer Festungsring: 45 km). Der Bau kostete weit mehr als 52,5 Millionen Kronen, 125.000 Arbeiter waren damit beschäftigt, die zweitgrößte Festung Europas (nach Verdun) zu erbauen. Sie bestand aus dem Innenring mit 18 Forts, drei Schanzen und vier Artillerieständen sowie aus dem Außenring, der 45 km Umfang hatte und mit 15 Hauptforts, 29 Unterstützungsforts und 29 Artilleriepositionen ausgestattet war. 1914 waren dort über 140.000 Soldaten stationiert. Ab etwa Mitte September 1914 geriet die Festung unter wachsenden Druck durch die Kaiserlich Russische Armee. Die bis zur Einnahme durch russische Truppen im März 1915 andauernde Belagerung von Przemyśl gilt als größte Belagerung des Ersten Weltkriegs. Die noch aus 110.000 Soldaten bestehende österreichisch-ungarische Garnison – gefallen waren 20.000 – kapitulierte am 22. März 1915 und ging in russische Kriegsgefangenschaft. Der Fall der Festung Przemyśl war ein schwerer Schlag für die österreichische Moral. Da die meisten Verteidiger der Festung Ungarn waren, wurde an der Margaretenbrücke (Budapest) zum Andenken an die Schlacht ein Denkmal errichtet. Im Juni 1915 folgte nach der Schlacht von Gorlice-Tarnów die Rückeroberung der Region durch k.u.k.-Truppen und das Deutsche Heer. Am 3. und 4. Juni 1915 gelang der 11. bayerischen Division die Rückeroberung der Festung Przemyśl. Dass die für Österreich-Ungarn symbolträchtige Festung durch deutsche Truppen zurückerobert wurde, führte in Wien zu Verstimmungen.

Przemysl war auch eine bedeutende jüdische Ansiedlung. Erste Zeichen jüdischer Ansiedlung stammen aus dem 11. Jahrhundert. Nachdem die Juden – 1367 unter Kazimir dem Großen und später 1559 von Sigismund II. August bestätigt – in Przemyśl Wohnrecht erhalten hatten – wenn auch außerhalb der Stadtmauern – wurde aus der anfänglich kleinen Gemeinde eine bedeutende jüdische Gemeinschaft mit Schulen, Krankenhäusern und Synagogen. 1869 machten sie mit 5962 Mitgliedern 41 % der Stadtbevölkerung aus; zu diesem Zeitpunkt waren sie bereits voll berechtigte Stadtbürger. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg war die Bevölkerung in Przemyśl auf 54.000 Menschen angewachsen, von denen 30 % Juden waren.

Die Judenverfolgung in Przemyśl durch das nationalsozialistische System erfolgte in den Jahren 1939 bis 1944 in mehreren Wellen. Dies führte schließlich wie in allen Städten auf meiner Route zur fast vollständigen Ausrottung der jüdischen Bevölkerung der polnischen Stadt. Ich will hier nicht mehr auf alle Einzelheiten der Judenverfolgung eingehen. Sie folgten ja alle einem ähnlichen Muster und ich habe viele Einzelheiten ja schon im Laufe meiner Tour aus anderen Städten berichtet. Einige Personen sollen in diesem Zusammenhang aber doch erwähnt werden. Da gibt es zunächst mal einen die Haupttäter. Einer davon war Josef Schwammberger (1912 – 2004), der in der Zeit des Nationalsozialismus SS-Oberscharführer, Ghetto- und Lagerkommandant in Przemysl und damit für die Ermordung tausender Juden verantwortlich war und auch selbst viele Juden auf grausamste Weise ermordet hat. Im Juli 1945 wurde er in Innsbruck als Josef Hackl verhaftet. Nachdem er im Januar 1948 aus dem Internierungslager Oradour in Tirol entkam, flüchtete er über eine der sogenannten „Rattenlinien“ nach Argentinien und blieb bis zum 13. November 1987 unerkannt flüchtig. Am 3. Mai 1990 wurde er von Argentinien an die Bundesrepublik Deutschland ausgeliefert. Für seine Ergreifung hatte das Land Baden-Württemberg knapp 500.000 DM gezahlt. In einem fast einjährigen Prozess von 1991 bis 1992 vor dem Landgericht Stuttgart bestritt Schwammberger stets die ihm vorgeworfenen Verbrechen. Er räumte lediglich ein, das Ghetto A im Lager Przemyśl geleitet zu haben. Am 18. Mai 1992 wurde er vom Landgericht Stuttgart wegen Mordes und Beihilfe dazu an 650 Personen zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt, die er in der Justizvollzugsanstalt Mannheim verbüßte.  Schwammberger mordete laut Gerichtsurteil willkürlich aus Rassenhass und gegenüber Juden habe er dabei besonders grausam gehandelt. Beim Quälen von Menschen, die ihm persönlich negativ aufgefallen waren, praktizierte er immer wieder drei von ihm bevorzugte Strafmethoden: Prügeln und Auspeitschen, meist nachdem die Opfer sich ausziehen mussten; Hetzen seines abgerichteten Schäferhunds Prinz auf diese, und Zwang, ihren eigenen Kot oder Erde herunter zu würgen. Schwammberger starb schließlich am 3. Dezember 2004 im Justizvollzugskrankenhaus Hohenasperg bei Ludwigsburg.

Ausnahmsweise gab es hier in Przemysl aber auch eine andere Seite. So wurde der 51-jähriger Reservist und Rechtsanwalt Albert Battel (1891 – 1952) aus Breslau 1942 in Przemyśl Adjutant des örtlichen Militärkommandanten Major Max Liedtke stationiert. Nachdem die SS am 26. Juli 1942 das Ghetto umstellte, um die erste groß angelegte „Evakuierung“ (Deportation) der Juden von Przemyśl vorzubereiten, flüchteten nachts einige Ghettoinsassen. Sie baten Battel um Schutz für sich und ihre Angehörigen. Battel konnte seinen Vorgesetzten Liedtke davon überzeugen, zumindest die Juden, welche für die Wehrmacht arbeiteten, unter ihren Schutz zu stellen. Daraufhin ließ Battel die einzige Brücke über den San versperren, welche den Zugang zum Ghetto darstellte. Als das SS-Kommando gegen Mittag ankam, drohten Battels Männer ihnen mit Waffengewalt, sollten diese nicht von ihrem Vorhaben ablassen. Daraufhin zog das SS-Kommando unverrichteter Dinge wieder ab. Formal war Battels Handeln durch den verhängten Belagerungszustand gedeckt. Battel gewährte 90 jüdischen Arbeitern mit ihren Angehörigen im Hof der Kommandantur Schutz. Am späten Nachmittag schickte er zwei Lastkraftwagen ins Ghetto und konnte in fünf Fahrten 240 Personen, etwa 100 seiner „Arbeitsjuden“ und deren Familien, aus dem Ghetto zur nahe gelegenen Kaserne holen. Dort wurden sie für etwa eine Woche in den Kellerräumen versteckt gehalten, während die SS das Ghetto „evakuierte“ und die Insassen in das Vernichtungslager Belzec deportierte. Insgesamt überlebten unter dem Schutz der Wehrmacht 500 Juden die Evakuierung der polnischen Stadt Przemysl.

Obwohl NSDAP-Mitglied war Albert Battel schon früher wegen seines respektvollen und menschlichen Umgangs mit den Juden aufgefallen. Auch in Przemyśl galt er als ein engagierter Freund der Juden. Als seine Tat bekannt wurde, stellte die SS geheime Ermittlungen an, von denen Battel selbst nichts erfuhr. Auf Befehl Heinrich Himmlers hin sollte Battel nach Kriegsende aus der NSDAP entfernt und inhaftiert werden. Doch dazu kam es nie. Albert Battel starb 1952 im hessischen Hattersheim an einem Herzinfarkt. Am 22. Januar 1981 wurde Battel in der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem als ein Gerechter unter den Völkern verewigt. Sein Vorgesetzter, Max Liedtke, wurde 1994 ebenfalls für die Judenrettung von Przemyśl in Yad Vashem geehrt.

Auch eine weitere Person soll hier nicht unerwähnt bleiben. Es ist Renia Spiegel (1924 – 1942), ein polnisch-jüdisches Mädchen. In ihrem Tagebuch, das sie zwischen 1939 und 1942 führte, beschrieb sie ihre Erfahrungen während der sowjetischen und später der deutschen Besetzung Polens. Im Sommer 1942 wurde sie in Przemysl ermordet. Renia Spiegels Tagebuch besteht aus sieben zusammengenähten Schulheften. Sie begann es am 31. Januar 1939 kurz nach dem Umzug nach Przemyśl zu führen. Die Aufzeichnungen des zu einer jungen Erwachsenen heranreifenden Mädchens werden natürlich mit dem Tagebuch der etwas jüngeren Anne Frank verglichen, das ungefähr zur selben Zeit entstanden ist. Renia Spiegel berichtet darin von der Sehnsucht nach ihrer Mutter, die in Warschau geblieben war, vom Alltag in Polen, unter den Sowjets und im Ghetto und von ihrer ersten Liebesbeziehung mit Zygmunt Schwarzer. Vom ersten Eintrag an adressierte sie das Tagebuch als eine Freundin. Mit dem Überfall der Deutschen 1941 sind die Einträge zunehmend durch Ängste und düstere Vorahnungen geprägt. Wenige Tage vor ihrer Ermordung notierte sie:

„Mein liebes Tagebuch, mein guter, liebster Freund! Wir haben gemeinsam die schrecklichsten Zeiten erlebt, und nun steht uns der schlimmste Moment bevor. Ich könnte ängstlich sein, aber der Größte, der uns bisher nicht verlassen hat, wird uns auch heute beschützen. … Gott, beschütze uns alle und Zygmunt und meine Großeltern und Ariana. Gott, ich übergebe mein Leben in Deine Hände.“

Renia und Zygmunts Eltern versteckten sich auf dem Dachboden des Hauses von Zygmunts Onkel Samuel Goliger, der als Mitglied des Judenrats außerhalb des Ghettos wohnen durfte. Das Versteck wurde jedoch schon wenige Tage später verraten und Renia Spiegel  und Zygmunts Eltern am 30. Juli 1942, kurz nach ihrem 18. Geburtstag, von deutschen Soldaten auf der Straße erschossen. Nachdem er Renia in das Versteck gebracht hatte, hatte Zygmunt Schwarzer das rund 700 Seiten umfassende Tagebuch an sich genommen und führte es fort. Auch der letzte Eintrag stammt von ihm:

„Drei Schüsse! Drei Leben verloren! Es geschah letzte Nacht um 10:30 Uhr. Das Schicksal hat beschlossen, meine Liebsten von mir zu nehmen. Mein Leben ist vorbei. Alles, was ich höre, sind Schüsse, Schüsse, Schüsse … Meine liebste Renusia, das letzte Kapitel Deines Tagebuchs ist nun abgeschlossen.“

Als Schwarzer selbst ins KZ verschleppt wurde, verwahrte ein Freund das Buch für ihn. Dieser Freund übergab Schwarzer, der den Holocaust überlebte, das Buch bei einem Besuch in den USA in den 1950er Jahren. Schwarzer machte die Überlebenden aus Spiegels Familie in den USA ausfindig und übergab das Tagebuch Renias Mutter. Für sich selbst fertigte er eine Kopie an, in der er regelmäßig las. Renias Mutter und Schwester Ariana, die den Holocaust ebenfalls überlebt hatten, ließen die Aufzeichnungen jedoch jahrzehntelang ungeöffnet liegen. Erst die Tochter der Schwester von Renia, Alexandra Bellak, fand das Buch und ließ Teile davon aus dem Polnischen ins Englische übersetzen. 2014 legte die Familie das Tagebuch dem polnischen Filmemacher Tomasz Magierski vor. Dieser erkannte das zeithistorische und literarische Potential des Werks und gründete 2015 gemeinsam mit der Schwester von Renia, Ariana Bellak (geb. Spiegel), die Foundation Renia Spiegel. Die Stiftung veröffentlichte Renia Spiegels Tagebuch 2016 auf Polnisch. Im September 2019 erschien es auf Englisch. Die deutsche Ausgabe erschien im Jahre 2021 beim Schöffling Verlag (Frankfurt/M.).

Diese Geschichte und die beiden Zitate, die ich bei einem Kaffee und Kuchen, in einem nahegelegenen Café der Altstadt von Przemysl lese, lassen mich nur schwer die Tränen unterdrücken, die mir während der Recherche in die Augen fließen. Ich beende meinen Besuch im Café und lasse mich nur noch durch die Stadt treiben, immer das Schicksal von Renia Spiegel vor Augen und beschäftige mich mit der Frage wie hättest Du Dich seinerzeit als Jude aber auch als Soldat der Wehrmacht oder anders Beteiligter verhalten. Ich kann nur hoffen aber ich weiß darauf keine Antwort.

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