33. Tag (10. Oktober 2021): Rückfahrt nach Leipzig und Nachbetrachtung

Heute geht es nun nach reichlich einem Monat wieder nach Hause. Noch einmal gibt es ein gutes polnisches Frühstück im Apart Neptun, dann packe ich meine Sachen aufs Fahrrad und radle zum Bahnhof. Wie immer in Tschechien und Polen steht kein Bahnsteig auf dem Fahrplan, so dass man erst einmal warten muss, bis die elektronische Anzeige, diesen etwa eine Viertelstunde vor Fahrtantritt nennt. Nachdem ich meine Plätze gefunden habe, verläuft die Fahrt unproblematisch. Mit dem EC geht es nun von Danzig nach Berlin und dann weiter mit dem ICE nach Leipzig. Ich bin ganz froh, dass ich beim Fahrkartenkauf nicht den nächsten Anschlusszug in Berlin genommen habe, der etwa eine Viertelstunde nach meiner Ankunft in Berlin abgehfahren wäre, sondern einen Zug später. Der EC fährt zwar in Polen sehr pünktlich. In Rzepin, der letzten Station vor der deutschen Grenze, hat er allerdings über eine halbe Stunde außerplanmäßigen Aufenthalt bis die deutsche Lokomotive ankommt bzw. einsatzbereit ist. Als es dann weitergeht, begrüßt uns über die Durchsage die deutsche Zugbegleiterin und entschuldigt sich für die Verspätung, weil der Zug nicht rechtzeitig übergeben worden sei. Das scheint mir denn doch eine sehr kühne Behauptung angesichts der Tatsache, dass der Zug nicht rechtzeitig in Polen abgeholt worden ist. Ansonsten fällt in Deutschland auf, dass die Zugbegleitung erst einmal durch den Zug geht und auf die Maskenpflicht hinweist und ihre Einhaltung einfordert. In Polen hat sich darum niemand gekümmert. Ich zum Schluss und hier im Zug auch nicht mehr. Also setze auch ich meine Maske wieder auf und fühle mich nun schon fast wieder wie zu Hause.

Während der Zeit im Zug, die Fahrt von Danzig nach Berlin dauert planmäßig etwa sechs Stunden, habe ich Zeit genug, meine Tour noch einmal zu reflektieren. Wie schon häufiger gesagt, war meine Fahrt entlang der Weichsel auch eine Fahrt durch die polnische aber auch die deutsche Geschichte.  Einst eine europäische Großmacht verschwand es dann nach drei Teilungen für mehr als ein Jahrhundert als eigenständiger Staat völlig von der Landkarte. Vieles davon macht sicher den wieder aufkeimenden Nationalismus in Polen erklärbar. Den meisten von uns ist aber wenig über die polnische Geschichte bekannt. In der Nachbetrachtung versuche ich daher mir einen kurzen Überblick über die Geschichte Polens zu verschaffen, den ich im wesentlichen den Artikeln aus Wikipedia verdanke.

Die – geschriebene – Geschichte Polens beginnt im Jahr 963, in dem der polnische Herzog Mieszko († 992) durch Widukind von Corvey in einer lateinischen Chronik als fähiger Herrscher erwähnt wird. Mieszkos freiwillige Annahme des Christentums, durch die Taufe 966, führte zur Christianisierung Polens und schützte das Land vor Fremdmissionierung. Aus seinem Herzogtum, zu dem angeblich ein Stamm der Polanen gehörte, ging das durch Kaiser und Papst anerkannte und gegen Ende der Epoche der Piasten (960–1386) fest etablierte Königreich Polen hervor. Als eine wichtige Quelle zur Gründung bzw. Anerkennung eines polnischen Staats gilt das sog. Dagome-iudex-Regest. Man geht davon aus, dass in der Eintragung eines Mönchs aus den Jahren 1086/1087 ein Schenkungsakt des polnischen Herzogs Mieszko I. an den Apostolischen Stuhl aus dem Jahr 991 beschrieben wird, mit dem Mieszko seine Stadt oder sein Land dem direkten Schutz des Papstes und nicht dem Kaiser des Heiligen Römischen Reichs unterstellt. Auch die polnische Kirche entwickelte sich unabhängig von der Reichskirche und stand in direkter Verbindung zur Römischen Kurie. Der britische Historiker Norman Davies bezeichnete die offizielle Annahme des Christentums als „das bedeutendste Ereignis der polnischen Geschichte“.

Seit dem Spätmittelalter bis in die Neuzeit bestand durch eine Personalunion eine dynastische Verbindung mit Litauen. Ab 1386 brachte die Union mit dem Großfürstentum Litauen unter dem von dort stammenden Herrschergeschlecht der Jagiellonen (1386–1572) den Aufstieg zu einer europäischen Großmacht, deren Staatsgebiet von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer reichte. Ab 1569 wurde die Union Polens mit Litauen in einem gemeinsamen Staat gefestigt. Die von 1572 bis 1795 bestehende Adelsrepublik manifestierte sich als Wahlmonarchie. Im 16. und 17. Jahrhundert entstand dort eine hohe parlamentarische Kultur mit umfangreichen Adelsrechten. Dies führte zwar zu einer starken Identifikation des Adels, des Magnats (Hochadel) und der Szlachta (Landadel), mit dem Land. Die sich verstärkenden strukturellen Missstände, bedingt durch zahlreiche Kriege mit Nachbarstaaten, Bürgerkriege und Aufstände der ukrainischen Kosaken, der Unwille zur Reform bei den Verantwortungsträgern, dazu Egoismen bei mehreren Wahlkönigen und im Adel, führten zur Schwächung des polnischen Staates.

Staatsrechtlich machte sich das am Wahlkönigtum und am sogenannten Liberum Veto (lateinisch veto ‚ich verbiete‘) fest. Die damit verbundene Macht des Adels wurde in Polen-Litauen unter dem Begriff der Goldenen Freiheit gefasst. Die sukzessive Ausdehnung der Goldenen Freiheit durch den Adel führte zur Schwächung der Königsgewalt (der polnische Adel untergrub durch seine häufige Opposition gegen den König dessen Autorität). Es kam nicht von ungefähr das man vom 16. bis 18. Jahrhundert darauf verfiel, häufig auch Ausländer zu Königen zu wählen, weil dies die geringste Gefährdung der eigenen Macht der Magnaten befürchten ließ. Das Liberum Veto schließlich war ein Einspruchsrecht im polnischen Adelsparlament, dem Sejm. Dort hatte jeder Abgeordnete ab dem 16. Jahrhundert das Recht, sein Veto einzulegen, da Entscheidungen einstimmig gefällt werden mussten. In diesem Fall wurden sämtliche zuvor gefallenen Entscheidungen der Sejmsitzung ungültig. Dies führte natürlich zu einer erheblichen Schwächung einerseits der Macht des Königs und andererseits auch zu einer Schwächung des Sejm. Insofern erinnert die polnische Adelsrepublik wohl mehr an eine Oligarchie. Die Oligarchie ist in der klassischen (antiken) Verfassungslehre die Entartung der Aristokratie. Sie wird schon bei Platon (427–347 v. Chr.) als die gesetzlose Herrschaft der Reichen betrachtet, die nur an ihrem Eigennutz interessiert sind. Viel anders kann man wohl das polnische Staatswesen selbst in seinem Goldenen Jahrhundert 16. Jahrhundert nicht betrachten. Es ist insofern nicht erstaunlich, dass dieses Machtvakuum die diplomatische und militärische Einmischung der Nachbarstaaten wie das Kaiserreich Russland, das Königreich Preußen und die Habsburgermonarchie auf den Plan rief. Umso mehr als diese oft von einzelnen Magnaten um Hilfe gebeten wurden. Diese Schwäche, die den mächtiger werdenden Nachbarn die Möglichkeit gab, sich in das politische System Polen-Litauens einzumischen, den Staat mittels Liberum Veto zu paralysieren, um ihn schließlich, durch Verhinderung von Reformen, am Ende ganz zu vernichten. Vor allem diese verfassungsrechtliche Entwicklung bewirkte schließlich den vollständigen Zusammenbruch des Staates durch drei Teilungen in den Jahren 1772, 1793 und 1795.

Dadurch verschwand Polen von 1795 bis 1918 als souveräner Staat von den Landkarten Europas. Kennzeichen der Teilungszeit sind Aufstände – in den Jahren 1830, 1848 und 1863, von denen jedoch keiner erfolgreich war – und sehr unterschiedliche Entwicklungen in den drei Teilungsgebieten. Die polnische Kultur überlebte diese Zeit trotz fremdstaatlicher Unterdrückung und der eigenen Staatenlosigkeit und entwickelte die Grundlagen für ein sehr nationalistisches Selbstverständnis. Dabei ging es weniger um die Freiheit des Einzelnen, um Demokratie oder Rechtsstaatlichkeit, sondern vor allem um die nationale Eigenständigkeit der Polen. 

Nach der staatlichen „Wiedergeburt“ als Zweite Republik nach Ende des Ersten Weltkrieges im Jahr 1918 war die polnische Geschichte durch eine mühsame staatliche Reorganisation und mehrere militärische Konflikte mit nahezu allen Nachbarstaaten und durch eine autoritäre bzw. diktatorische staatliche Realität seit dem Putsch durch Marschall Pilsudski im Jahre 1926 gekennzeichnet. Die beiden Diktatoren Hitler und Stalin vereinbarten im Zusatzprotokoll des Ende August 1939 geschlossenen deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes die erneute Aufteilung Polens. Auf den deutschen Überfall auf Polen 1939, den Beginn des Zweiten Weltkriegs, und die sowjetische Invasion Ostpolens folgten Jahre der deutschen und der sowjetischen Besetzung. Was in den nächsten 6 Jahren in Polen von Seiten der Russen aber sicher noch brutaler und unmenschlicher von Seiten der Deutschen geschah, gehört sicher zu den schlimmsten Verbrechen der Geschichte überhaupt. Im Zweiten Weltkrieg starben etwa sechs Millionen Polen. Die meisten starben nicht durch unmittelbare Kriegseinwirkung, sondern durch einen systematischen Massenmord besonders an der jüdischen polnischen Bevölkerung aber auch durch systematische Verfolgung und Ermordung von Millionen anderen Polen. Hier sei an das Massaker des sowjetischen NKWD in Katyn erinnert, aber vor allem auch an die noch umfassenderen Verfolgungs- und Vernichtungsaktionen der Deutschen, die verharmlosend als „Außerordentliche Befriedungsaktion“ oder „Intelligenzaktion“ bezeichnet wurden. Ziel war es, den Widerstand gegen die deutsche Besetzung Polens durch die gezielte Tötung potentieller Widerstandsführer im Keim zu ersticken. Im Frühling und Sommer des Jahres 1940 wurden im Rahmen dieser Aktion im Generalgouvernement etwa 7500 Personen verhaftet und ermordet. Vorläufer war die Intelligenzaktion vor allem in Krakau, bei der das Ziel die Ermordung der polnischen Inteligencja war. Aber unabhängig von diesen Aktionen standen Massaker und Massenmorde in den nächsten sechs Jahren im von den Deutschen besetzten Gebiet ständig auf der Tagesordnung, eine Schuld und Verantwortung, die wir Deutsche nie vergessen dürfen, auch wenn wir gegenwärtige Entwicklungen in Polen im Hinblick auf tendenzielle Bestrebungen, den Rechtsstaat und die Pressefreiheit einzuschränken, weiter kritisch begleiten sollten.

 

Schreibe eine Antwort

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.