Den letzten Abend in Finnland verbrachte ich mit Susanne und Bernd, einem Ehepaar aus Magdeburg, die kurz nach mir mit ihren Fahrrädern den Campingplatz erreichten und die Tour von Danzig nach Helsinki fahren. Es gab natürlich viel zu erzählen. Für mich war es auch deshalb ein sehr angenehmer Abend, weil ich zum ersten Mal seit mehreren Wochen wieder ausgiebig in Deutsch parlieren konnte.

Die Fahrt dann gestern über die russische Grenze war erheblich unproblematischer als ich das mal wieder befürchtet hatte. Es gab bei der Ausreise aus Finnland eine kurze Passkontrolle und bei der Einreise nach Russland eine etwas intensivere Kontrolle, aber ich musste nicht wie noch vor fünf Jahren ein Formular mühsam ausfüllen, weil das heute maschinell von den Grenzbeamten erledigt wurde. Eine Beamtin wollte dann noch unbedingt meine Taschen von innen sehen, verzichtete dann aber auf weitere Untersuchungen als sie auf meine nicht mehr ganz geruchsneutrale Unterwäsche stieß.

Der Grenzübergang ist der größte finnische-russischer Grenzübergang mit weit über 2 Millionen Grenzüberschreitungen jährliuch. In den letzten fünf Jahren, seitdem ich das letzte Mal hier die Grenze passiert habe, hat sich baulich viel getan. Die E 18 zum Grenzübergang in Finnland und danach auch die in Russland sind ganz neu. Der Grenzbereich zwischen Finnland und Russland erstreckt sich hier sicher über drei Kilometer. Wohl nicht ungewöhnlich ist eine kilometerlange Schlange von LKW. Der Personenverkehr wird aber gesondert abgefertigt, so dass es hier zu keinen großen Verzögerungen kommt. An diesem Morgen war ohnehin noch nicht viel Verkehr und für Radfahrer gilt an Grenzübergängen wohl das ungeschriebene Gesetz, dass sie an den Autos vorbei und vorbeifahren können. Ein Gesetz, das ich natürlích gerne befolge.

Die Fahrt auf der neuen Straße in Russland ist fahrtechnisch ausgesprochen angenehm. Es gibt kaum nennenswerte Steigungen und wenn sind sie so langgezogen, dass man sie kaum spürt. Der Asphalt ist wirklich hervorragend und es gibt einen sehr regelmäßigen ca. 80 cm breiten Seitenstreifen, der noch zur Asphaltdecke der Fahrbahn gehört, auf dem sich sehr gut mit dem Fahrrad fahren lässt, der also einen Radweg fast ersetzt. Das einzige Unangenehme ist das LKW-Kuscheln wie es Bernd genannt hat. Die russischen LKW machen zum Teil keinerlei Anstalten etwas zur Seite zu weichen, wenn sie einen Radfahrer passieren. Im Gegenteil habe ich es sehr verschreckt zur Kenntnis genommen, dass ein LKW-Fahrer, der gerade etwas waghalsig überholt wurde, ohne Rücksicht auf Verluste auf den Seitenstreifen auswich, obwohl ich da gerade lang fuhr. Hier ist dann nur noch ein weiterer etwa drei Meter breiter unasphaltierter Seitenstreifen, auf den man sich retten kann und auf den ich mich einmal auch retten musste.

Das Wetter hat sich heute verändert. Es ist sehr bedeckt und schwül und es sind auch Schauer angesagt. Auf meiner Strecke nach Wyborg gehen dann auch zwei kurze aber heftige Schauer runter. Ich kann mich aber jedes Mal rechtzeitigt in ein Bushaltestellenhäuschen flüchten, so dass ich recht gut davonkomme. Im Laufe des Vormittags wird aber auch auf dem Wetterapp deutlich, dass das schlechtere Wetter nicht nachhaltig sein wird und auch die Temperaturen nach wie vor recht hoch bleiben werden.

In Wyborg checke ich dann im vorgebuchten Atlantik Hotel ein. Das Zimmer ist sehr solide aber leider etwas warm. An der Rezeption habe ich mir die Adresse eines Fahrradladens heraussuchen lassen. Ich bin mit meiner Kettenreparatur doch nicht recht zufrieden, weil irgendetwas an der Kette immer wieder knackt. Das klingt natürlich nicht beruhigend. Ich habe den Eindruck, dass ich eventuell den einen Nietenstift zu weit eingedreht habe und damit die Gefahr besteht, dass ein Kettenglied wieder auseinanderreißt. Insofern möchte ich zumindest einen Ersatznietenstift bzw. ein Ersatzkettenglied bei mir haben. Mein Weg führt mich durch die Altstadt in die Nähe des Bahnhofs von Wyborg. Wyborg bist leider nach wie vor an vielen Stellen eine verfallende Stadt, hat aber auch sehr schöne Ecken und wird an vielen Stellen gerade restauriert.

Den Fahrradladen finde ich dann nach einigem Suchen im Keller eines Kaufhauses. Er macht aber einen hellen und sortierten Eindruck. Einer der Mitarbeiter spricht sogar Englisch und als ich mein Anliegen erklärt habe, bekomme ich ein Reststück einer 9-fach Fahrradkette ausgehändigt, mit der ich mich im Notfall sicher behelfen könnte. Dann fragt man mich, wo ich denn herkomme und als ich antworte aus Deutschland fängt er an zu lachen und sagt auf den Mechaniker weisend, der mir das Kettenteil gegeben hatte, dass der auch in Deutschland geboren sei. Der erweckt dann seine Sprachkompetenz und erzählt mir freudestrahlend „born 1975 in Weimar“. Als ich ihm dann erzähle, dass ich auch einmal in Weimar gelebt habe, schiebt er noch ganz aufgeregt hinterher „Ohrdruf“. Er ist also als Kind von sowjetischen Militärangehörigen in Deutschland zur Welt gekommen, von denen seinerzeit etwa 30 Tsd.(!) in Ohrdruf stationiert waren. Viel Berührung kann er mit Deutschland und den Deutschen aber nicht gehabt haben, denn er spricht nur einige Worte Deutsch.

Da ich mir dann überlege, ob es nicht doch besser ist, noch mal einen Fachmann auf meine Kette schauen zu lassen, vereinbare ich für Montag früh einen Termin und werde noch eine Nacht länger in Wyborg bleiben. Danach schlendere ich an der Promenade der Ostseebucht entlang zurück zu meinem Hotel. Das Abendessen will ich heute mal im Restaurant des Hotels versuchen. Eine Speisekarte in Englisch gibt es nicht, auch der etwas linkisch wirkende Kellner versteht kein Wort Englisch. Gott sei Dank erbarmt sich eine von zwei jüngeren Russinnen am Nachbartisch meiner und übersetzt mir die Speisen auf der Karte ins Englische. Ich bestelle mir ein Kalbssteak, bekomme dieses aber nur mit einigen Salatblättern, drei Gurkenscheiben und einer Balsamicosauce. Auch hier ist Lana, so heißt die Russin wie ich später erfahre, mir behilflich und sorgt dafür, dass ich zumindest noch etwas Brot bekomme. Ich lade die beiden Russinnen zum Dank für ihre Hilfe noch zu einem Glas Bier ein und erfahre, dass sie beide aus Moskau hier angereist sind und die eine Architektin und die andere Künstlerin ist. Wenn ich es richtig verstanden habe, sind sie mit Studenten hier, die irgendein Praktikum machen müssen.

Als Abendspaziergang gönne ich mir dann noch eine Runde um die Burg. Leider gelang es mir nicht, die Burg angestrahlt im Dunkeln zu fotografieren, weil es auch nach Sonnenuntergang einfach sehr lange dauert bis es tatsächlich dunkel ist und die Beleuchtung eingeschaltet wird. So wurde es leider heute noch nichts mit den Nachtfotos von der Burg. Aber nun habe ich ja noch zwei Abende.

Heute zunächst das erste Frühstück im hoteleigenen Restaurant. Wieder ist der etwas unbeholfene Kellner zugegen, der eigentlich noch wie ein Schüler wirkt und auch so rumläuft. Es gibt ein fest zugeteiltes Frühstück bestehend aus einer Tasse Kaffee, nicht mehr, einer Schüssel Milchreis, zwei weichen Toastbroten, drei Scheiben Wurst, zwei Scheiben Käse, die Butter fehlt leider, drei Scheiben Gurke und zwei Scheiben Tomaten sowie einem Stück Käsekuchen. Gut man kann auch davon satt werden.

Nach dem Frühstück mache ich mich dann auf den Weg in die Stadt. Das Wetter verspricht wieder warm zu werden. Durch den gestrigen Regen ist es recht schwül. Mein erstes Ziel ist die Touristeninformation, um einen sprachlich für mich verständlichen Flyer zu den Hauptsehenswürdigkeiten von Wyborg zu erhalten. Auffallend ist, dass in Russland am Sonntag offensichtlich recht uneingeschränkt gearbeitet wird. Die meisten Geschäfte haben geöffnet, selbst die Bauarbeiter und Straßenarbeiter sind beschäftigt. Nur die Touristeninformation hat geschlossen. So komme ich wieder nicht zu einem englisch- oder deutschsprachigen Flyer mit Erläuterungen zu den Hauptsehenswürdigkeiten von Wyborg. Auch die Begegnung mit russischen Geldautomaten endet mit einer Frustration. Sie können nur russisch. Während ich die Geheimzahl noch eingeben kann scheitere ich schon bei der nächsten Frage. Gott sei Dank hatte ich mir an der Grenze schon mal 50 € umgetauscht und Gott sei Dank kann man auch meistens mit Karte bezahlen.

Nun mache ich mich erst einmal mit meinem russischen Flyer auf den Weg und auch Wikipedia hatte natürlich schon als Orientierung gedient. In aller Kürze sollte man zu Wyborg wissen, dass es etwa 80 Tsd. Einwohner hat, im Mittelalter von den Schweden gegründet wurde, von 1710 bis 1812 Teil des russischen Reiches war , ab 1812 innerhalb des russischen Kaiserreichs autonomes Großfürstentum Finnlands war und dann 1917 zum unabhängigen Finnland gehörte. In Finnland war Wyborg die zweitgrößte Stadt. Im Winterkrieg 1939-1940 kam die Stadt wieder zur Sowjetunion und die einheimische Bevölkerung wurde ins verbleibende Finnland evakuiert oder wahrscheinlich eher vertrieben. Die Bevölkerung bestand einst aus zahlreichen Nationalitäten, insbesondere aus Finnen, Russen, Schweden und Deutschen. Heute besteht sie zu über 90 % aus Russen.

Mein Weg führt mich unter anderem zum alten Rathausplatz nur eine Minute von meiner Unterkunft entfernt, zum neuen Marktplatz mit dem aus den alten Verteidigungsanlagen erhaltenen runden Turm mit dem vielsagenden Namen „Fette Katharina“, zur sehenswerten Markthalle, wo man auch interessante t-shirts mit Stalin auf der Brust oder Putin mit nacktem Oberkörper auf einem Bären reitend bzw. mit einem Hund schmusend erwerben kann. Leider finde ich die von mir geliebten russischen Krokantbonbons noch nicht, die mir natürlich lieber wären als ein t-shirt mit Stalin oder Putin. Ich wandere auch durch eine sich durch die Stadt ziehende Grünanlage in der auch die von Alvar Aalto in den Jahren 1927 bis 1935 errichtete Stadtbibliothek steht, die doch sehr verwandt mit dem Bauhausstil zu sein scheint. Sie gehört auch zu den Frühwerken des berühmten Architekten. Die entlang der Grünanlage führende Straße ist eine Galerie von Bürgerhäusern aus der finnischen Periode im national-romantischen Stil. Leider sind sehr viele Häuser dringend renovierungsbedürftig aber teilweise wird auch schon mit der Restaurierung begonnen. Angeblich weil Putin Anfang August die Stadt besuchen wird und man etwas vorweisen muss. Ob die Restaurierungen allerdings bis dahin erfolgreich beendet werden können, scheint mir eher zweifelhaft. Zum Schluss komme ich noch auf einen großen Platz, der aussieht als wären früher hier Paraden oder Aufmärsche abgehalten worden. An einem Ende steht dann auch in entsprechender Größe eines der vielen Denkmäler des Genossen Uljanow und es sieht auch noch sehr gepflegt aus. Die Russen gehen offensichtlich mit ihrer Vergangenheit doch anders um als wir in Deutschland. Schließlich beende ich meinen ersten Rundgang mit einem Besuch des Inneren der Burg. Der Besuch ist allerdings eher ernüchternd, weil dort auch vieles zu verfallen droht. Ich muss mal sehen, ob man vielleicht auf den Turm hinaufkommt. Von hier muss man einen phantastischen Blick auf Wyborg haben. Ich vermute aber, dass der im Moment eher nicht zugänglich ist, weil auch er restauriert wird.

Den Rest des Nachmittags verbringe ich auf meinem Zimmer im Hotel. Es ist draußen aber auch drinnen sehr schwül. Am frühen Abend treffe ich Lana und Mascha, die beiden Russinnen von gestern. Meiner Bitte, mich bei der Bedienung eines Geldautomaten zu unterstützen, kommen sie gerne nach und es klappt dann auch. Ich denke, ich habe es damit auch gelernt. Natürlich lade ich sie dann noch zu einem kleinen Umtrunk in einer recht hübschen Bar ein, die in einem uralten Haus aus dem 15 Jhd. untergebracht ist und einen sehr schönen Freisitz hat. Lana ist übrigens Architektin und Mascha, wenn ich das richtig verstanden habe, Ölmalerin und beide betreuen eine Studentengruppe, mit der sie hier in Wyborg sind. Lana ist eindeutig die aktivere und vor allem extrovertiertere von beiden. Sie spricht sehr gut englisch und wir führen dann noch ziemlich kontroverse Diskussionen zu politischen Themen und zu Architekturstilen. Leider gerät mein Englisch oft an seine Grenzen.

Tagesdaten am 21. Juli: 65,24 Km; 05:00:13 Std. Fz.; 13,03 Km/h; 290 Hm

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