Ich habe hervorragend geschlafen und auch das Frühstück bei Familie Engelcke entsprach meinen Ansprüchen. Auch das Wetter erschien heute freundlicher als in den letzten Tagen. Es war zwar immer noch recht kühl, aber die Sonne kam immer mehr durch und es wurde ein heiter bis wolkiger Tag. So begann der Tag recht erfreulich.
Heute hatte ich mir vor allem den Besuch der romanischen Kaiserpfalz vorgenommen. Die Kaiserpfalz Goslar umfasste ein Areal von 340 mal 180 Metern, auf dem sich im Wesentlichen das Kaiserhaus, das ehemalige Kollegiatstift „St. Simon und Judas“ die Pfalzkapelle „St. Ulrich“ und die Liebrauenkirche befanden. Mit dem Bau wurde wohl 1005 unter Heinrich II. begonnen. Goslar wurde die Kaiserpfalz vor allem der Salierkaiser. Nach und nach entstand für die damalige Zeit eine riesige Anlage. Vollendet wurde sie wohl in den 1050er Jahren unter Heinrich III. Dabei galt das Kaiserhaus schon zu seiner Zeit als der größte Profanbau des Reiches. Es beherbergte übereinander zwei Säle von 47 Metern Länge und 15 Metern Tiefe. Der obere Saal war der „Sommersaal“ und der untere der „Wintersaal“, weil er eine Warmluftheizung hatte. Während der obere Saal wieder existiert ist der untere Bereich in mehrere Räumlichkeiten unterteilt und enthält eine Ausstellung zum Mittelalter und zur Reistätigkeit der Kaiser und Könige.
Die ursprüngliche Pfalzkirche des 11. Jahrhunderts existiert nicht mehr. Lediglich die Vorhalle ist erhalten geblieben und steht nun etwa isoliert auf dem Gelände. Eine jüngere Pfalzkapelle, die sogenannte Ulrichskapelle aus dem 12. Jahrhundert, wurde als Doppelkappelle errichtet und ist erhalten und mit dem Kaiserhaus verbunden. Der früher noch zur Kaiserpfalz gehörende Wohnpalast existiert heute nicht mehr. Kernstück der heute noch vorhandenen Baulichkeiten sind somit das Kaiserhaus und die Ulrichskapelle.
1253 hielt sich mit Wilhelm von Holland letztmals ein Deutscher König in der Pfalz auf. Danach begann der Verfall der Anlage durch Brände und einstürzende Türme, Decken und Mauern. Lediglich die Ulrichskapelle blieb weitgehend erhalten, wohl vor allem deshalb, weil sie als Gefängnis genutzt wurde. Demgegenüber war bei der erheblich größeren Pfalzkirche 1802 nur noch eine Ruine übrig, die dann 1819 zum Abriss freigegeben wurde. Als im Jahre 1865 auch im Kaiserhaus, das mehrere Jahrhunderte als Kornspeicher benutzt wurde, wieder Mauern einstürzten, erwog der Rat der Stadt Goslar auch hier den Abbruch. Dies konnte jedoch abgewendet werden, nachdem eine staatliche Kommission die Restaurierung des Gebäudes empfahl.
Die Bauarbeiten begannen 1868. 1875 besuchte Kaiser Wilhelm I. die Baustelle und gab dem Projekt damit eine nationale Bedeutung. 1879 war die Restauration des Bauwerks fertig. Das Ergebnis wird heute teilweise nicht zu Unrecht kritisch gesehen. Letztlich wurde keine romanische Kaiserpfalz restauriert, sondern eine nationale Weihestätte des wiedererstandenen Deutschen Reiches errichtet, dass sich gerne in der Tradition der mittelalterlichen Kaiser, insbesondere Friedrich I. (Barbarossa) gesehen wissen wollte. So ging die Baumaßnahme über eine authentische Wiederherstellung weit hinaus: Im nationalen Überschwang der Zeit hatte man den Bau ins Monumentale erhöht und nach Ansicht der Kritiker diverse Restaurationssünden begangen. Der Arkadengang vom Kaiserhaus zur Ulrichkapelle, die Freitreppenanlage, die Änderungen an den Fensterdurchbrüchen im Sockelgeschoss, die zwei Nachbildungen des Braunschweiger Löwen und insbesondere die beiden Reiterstandbilder Kaiser Friedrich Barbarossas und Wilhelms I. mit der Beschriftung „Wilhelm der Große“ machen deutlich, dass die Rekonstruktion wohl mehr der nationalen Symbolik des neuen Deutschen Reiches dienen sollte als einer authentischen Restaurierung einer romanischen Kaiserpfalz.
Ganz augenfällig wird dies auch im Inneren des Kaiserhauses, wo die von Hermann Wislicenus (1825-1899) in der Zeit von 1879 bis 1897 geschaffenen monumentalen, historisierenden Wandgemälde vom nationalen Hochgefühl dieser Zeit zeugen. So malte Wislicenus den Sommersaal mit Bildern aus der deutschen Geschichte und aus deutschen Sagen aus, die darin gipfelten, das Kaisertum der Hohenzollern in die Tradition der römisch-deutschen Kaiser zu stellen. Deshalb wird hier auch die Dornröschensage noch einmal auf dem ersten der Monumentalgemälde dargestellt, so als sei das Heilige Römische Reich 1806 in einen Dornröschenschlaf verfallen und 1871 wieder als Deutsches Reich erweckt worden. Sinnbildlich dafür ist das zentrale größte Bild in der Mitte des Saales. In Zentrum des Bildes reitet Wilhelm I., hinter ihm ebenfalls zu Pferde sein Sohn der Kronprinz Friedrich Wilhelm. Zur Linken Wilhelms stehen zwei junge Frauen in langen Gewändern, die Lothringen und das Elsass verkörpern. Beide tragen ihre Hauptkirchen, den Dom von Metz und das Straßburger Münster, in den Händen. Zur Rechten steht Bismarck mit Säulenbasis und Hammer als Baumeister des neuen Reiches dargestellt. Auf der linken Seite des Bildes hinter Bismarck sind die deutschen Fürsten zu sehen, ganz vorn der Bayernkönig Ludwig II., der Wilhelm eine Krone reicht. Auf der rechten Seite des Bildes sitzen die Gemahlinnen von Wilhelm I. und seinem Sohn, Augusta und Victoria. Der dort stehende Knabe ist der spätere Kaiser Willhelm II. Über der Szene schweben im Himmel Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, darunter Friedrich I. Barbarossa, der die Tradition bestätigend mit der Hand auf Wilhelm I. weist.
Wilhelm II. hat in seiner Eitelkeit seine Platzierung etwas abseits vom Geschehen neben seiner Mutter und seine Darstellung dem Künstler sehr verübelt. Immerhin war er zur Zeit der Fertigstellung des Gemäldezyklus schon fast ein Jahrzehnt deutscher Kaiser! Die erwartete Auszeichnung für Wislicenus fiel daher erheblich geringer aus als von diesem erhofft. Er erhielt lediglich einen sehr einfachen Orden.
Trotz dieser Adaption und Präsentation des Zeitgeistes im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wird man dem Gemäldezyklus einen gewissen Reiz in seiner monumentalen Geschichtsdarstellung nicht absprechen können. Mit der Romanik hat das alles freilich nichts zu tun, eher mit dem romantsichen Nationalismus des 19. Jahrhunderts. Romanisches Relikt ist freilich der Sarkophag Heinrichs III. der in der Mitte der Ulrichskapelle platziert wurde. Die Deckelplatte ziert eine Plastik aus der Mitte des 13. Jahrhunderts, die den lebensgroßen, liegenden Heinrich III. darstellt, den Kopf auf zwei Kissen gebettet, zu Füßen sein Hund liegend, in der echten Hand das Zepter und in der linken das Modell einer Kirche. Der Sarkophag soll in einer achteckig vergoldeten Kapsel das Herz Heinrichs III. enthalten, das auf Wunsch Heinrichs III. in Goslar verblieben ist und seit 1884 mit dem Sarkophag in der Ulrichskapelle aufbewahrt wird, während sein Leichnam im Speyerer Dom beigesetzt wurde.
Der Pfalzbezirk gehört übrigens seit 1992 gemeinsam mit der Altstadt von Goslar und dem ehemaligen Silberbergwerk Rammelsberg zum Weltkulturerbe der UNESCO. Die mittelalterliche Altstadt mit ihren über 1500 Fachwerkhäusern und ihren kopfsteingepflasterten Straßen ist wirklich ein Kleinod, in dem man sich in eine andere Zeit versetzt fühlt. Für mich als Fahrradfahrer sind die Kopfsteinpflaster natürlich eine Herausforderung. Dennoch tragen sie zum mittelalterlichen Gesamteindruck bei und man nimmt sie dafür gerne in Kauf.
Mein zweites Ziel in Goslar ist die Neuwerkkirche, eine ehemalige Klosterkirche aus dem 12. Jahrhundert. Das Kloster wurde als Nonnenkloster außerhalb der Stadtbefestigung von Goslar gegründet. Die erste Äbtissin kam mit zwölf Nonnen aus Ichtershausen in Thüringen. Die Nonnen lebten zunächst nach den Zisterzienserregeln, obwohl das Kloster nicht dem Orden angehörte. 1199 wurde das Kloster als Benediktinerrinnenkloster vom Papst bestätigt. Nach der Reformation wurde das Kloster bis in die 1960er Jahre als Damenstift und höhere Töchterschule fortgeführt. Seit 1964 ist die Kirche Pfarrkirche eine Kirchengemeinde Goslars. Sie ist übrigens Start- bzw. Endpunkt des Harzer Klosterwanderweges, der in Quedlinburg beginnt und auf einer Strecke von ca. 95 Kilometern zwölf ehemalige Klöster verbindet.
Der Bauzustand der Entstehungszeit ist in allen Teilen weitgehend erhalten. Die Neuwerkkirche gilt daher als stilreines Beispiel einer romanischen Bauweise. Das Mauerwerk der Kirche besteht aus Bruchstein, was allerdings nicht auffällt, weil die Kirche verputzt ist. Der Westbau hat zwei achteckige Türme. Auffallend ist die mit Säulen und vielfältig gestalteten Kapitellen reich gegliederte Hauptapsis. Hier soll der Kaiserdom in Königslutter Vorbild gewesen sein. Der Innenraum der Kirche ist vom Übergang zwischen Romanik und Frühgotik geprägt wie man am Rippengewölbe und den Gurtbögen unschwer erkennen kann. Auffällig sind vor allem die Wandmalereien, die aus dem 13. Jahrhundert stammen. Sie wurden 1874/75 freigelegt, restauriert und natürlich auch ergänzt. In der Wölbung der Hauptapsis ist der segnende Christus auf dem Schoß seiner Mutter dargestellt.
Nach Besichtigung der Neuwerkkirche begebe ich mich wieder in mein Quartier, packe mein Gepäck auf das Fahrrad und mache mich nun auf den Weg in das 60 Kilometer entfernte Schöningen. Es ist eine sehr angernehme Fahrt. Ich fahre nach Osten, habe also Rückenwind. Das Wetter bleibt auch im Übrigen angenehm. Zunächst geht es aus dem Harz hinunter in das Harzer Vorland. Hier komme ich am Kloster Wöltingerode vorbei, ebenfalls eine Station des Harzer Klosterwanderweges. Auch dieses Kloster hat einen romanischen Ursprung. Hinter Vienenburg geht es dann ein Stück in nördlicher Richtung entlang der Oker. Hier stoße ich auf den Iron Curtain Trail, den ich dann bei Hornburg über 25 Kilometer relativ schnurgerade und eben zwischen einem nördlichen und einem südlichen Hügelhöhenzug gen Osten fahre. Der Iron Curtain Trail verläuft hier auf der ehemaligen Grenzstraße der Grenztruppen der DDR und ist zum großen Teil noch gut befahrbar. Ich kann also Tempo machen, komme aber auch an einigen Gedenkstätten für die ehemalige Grenze zur DDR vorbei, wo noch Wachtürme und Teile von Grenzzäunen stehen, die das heute schon fast Unfassbare in Erinnerung zu halten versuchen.
In Schöningen habe ich mich in der dortigen Jugendherberge angemeldet. Schöningen liegt auf dem Elm, einem 25 Kilometer langem und bis 8 Kilometer breiten vor allem mit Buchen bewaldeten Höhenzug südöstlich von Braunschweig. Ich muss also noch einmal bergauf fahren, was aber unproblematisch ist. Die Jugendherberge liegt wie so oft etwas außerhalb des Ortes und noch etwas höher. Ich bin der einzige Gast in einem 60 Bettenhaus, werde aber freundlich empfangen. Abendessen gibt es allerdings nicht und ich muss noch einmal hinunter nach Schöningen fahren, wo ich mich bei einem Asia-Imbiss an gebackener Ente mit Gemüse und Erdnusssauce satt esse. Den Abend verbringe ich dann auf meinem Zimmer und schreibe meine Berichte weiter.
Tagesdaten: 67,98 Km; 05:19:27 Std. Fz.; 12,76 Km/h; 441 Hm