28. Tag (5. Oktober 2021): Von Grudziadz nach Kwidzyn (Marienwerder)

Nach dem Frühstück im Ibis Style mache ich mich auf den Weg. Auch heute ist die Strecke mit etwa 40 Kilometern nicht sonderlich lang und auch sonst nicht herausfordernd. Das Wetter bleibt noch einmal sehr schön mit Temperaturen um die 20°. Die Landschaft ist weiter recht eintönig. Einige Dorfkirchen, eine Tabakfarm, ganz schöne Blicke in die Weichselauen und ein Blick über die Weichsel auf die Altstadt von Nowe sind die einzige hervorhebenswerten Dinge, die ich heute auf der Strecke erlebe. Sehr eindrucksvoll dann die Fahrt hinein nach Kwidzyn mit einem eindrucksvollen Blick auf das die Landschaft dominierende Kraftwerk und sehr schönen Blicken auf die Kathedrale und die Ordensburg. Hervorhebenswert ist auf jeden Fall noch, dass seit etwa 10 Kilometer vor Kwidzyn der Radweg nicht nur auf Straßen ausgewiesen ist, sondern, dass es tatsächliche einen Radweg gibt.

Gegen 14 Uhr erreiche ich dann meine heutige Unterkunft, das Hotel Maxim honrujemy bon Turystyczny. Mit meiner Übersetzungs-App kommt bei dem Namen des Hotels die merkwürdige Übersetzung: “ Maxime wir ehren den Touristengutschein“. Vom Namen abgesehen macht es aber einen sehr seriösen und auch sehr komfortablen Eindruck. Ich werde freundlich von dem Besitzer empfangen. Ich bekomme einen Abstellplatz für mein Fahrrad direkt an der Rezeption und ein sehr schönes Zimmer. Allzu viele Gäste sind heute nicht hier und werden wohl auch nicht erwartet. Nachdem ich mich eingerichtet habe, mache ich mich auf den Weg, die Stadt zu erkunden.

Mein wichtigstes Ziel ist natürlich die Ordensburg, die zusammen mit der Domkirche ein bauliches Gesamtensemble darstellt. Mit dem Schloss des pomesanischen Domkapitels (Bischofsburg) beherbergt die Stadt eine der bedeutendsten Burganlagen des Deutschordensstaates, die Burg Marienwerder. Der Deutsche Orden hatte unter Hermann Balk, dem ersten Landmeister des Deutschen Ordens in Preußen, 1233 auf einem von den Pruzzen befestigten Hügel auf dem Gebiet des heutigen Dorfes Tychnowy eine Burg angelegt. Noch im gleichen Jahr verlegte er sie 5 Kilometer weiter nach Süden auf einen Hügel, der ebenfalls zuvor von den Pruzzen befestigt worden war. Die Stadt Marienwerder selbst legte der Orden wenig später nördlich dieser Burg an und stattete sie mit einer Handfeste aus. Nach Gründung des Bistums Pomesanien kam die Ordensburg 1254 in den Besitz des Bischofs. Er erwählte sie 1285 zu seinem Sitz. Nördlich der Stadt ließ er von 1264 bis 1284 eine Domkirche errichten. Im Jahre 1322 begann der Bischof dort mit dem Bau der Bischofsburg zur Unterbringung des 1284 gegründeten Domkapitels. Um diese Zeit scheint auch die Lateinschule gegründet worden zu sein. Die heutige Domkirche entstand an Stelle der alten in den Jahren 1344 bis 1355. Sie enthält die Grabmäler dreier Hochmeister des Deutschen Ordens und der pomesanischen Bischöfe.

Am 14. März 1440 trat auch der Marienberger Landadel dem Preußischen Bund bei, der in Opposition zur Landesherrschaft des Ordens trat und sich 1454 gegen die Zusicherung großzügiger Privilegien dem König von Polen unterstellte. Bei der Teilung des bisherigen Ordensgebietes im Zweiten Frieden von Thorn blieb Marienwerder dem Ordensstaat erhalten und war fortan dessen einzige Stadt an der Weichsel. Mit der Säkularisation des Ordensstaates 1525 unter Albrecht I. wurde die Stadt lutherisch und Teil des Herzogtums Preußen, des späteren Königreichs Preußen. Im Jahre 1540 begann der Abriss der Ordensburg bis auf einen kleinen Rest. Für den Burghügel südlich der heutigen Altstadt kam der Name Altschlösschen auf. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts gehörte die Lateinschule von Marienwerder zu den bedeutenderen evangelischen Schulen. Im 18. Jahrhundert erlangte die Anstalt die Befugnis zur Entlassung auf die Universität.

Durch die Neueinteilung des Königreichs Preußens im Rahmen der ersten polnischen Teilung von 1772 wurde Marienwerder administrativ aus Ostpreußen ausgegliedert und diente nach Gründung der Provinz Westpreußen 1775 als Sitz der Verwaltung. Nach den Grenzregelungen des Wiener Kongresses in den Jahren 1815–1818 wurde Westpreußen um Danzig erweitert, welches Marienwerder als Hauptstadt ablöste. Nun wurde sie Kreisstadt und Hauptstadt des Regierungsbezirks Marienwerder, der das südliche Westpreußen umfasste. 

Der Vertrag von Versailles hatte die Schaffung des Polnischen Korridors zur Ostsee auf westpreußischem Territorium und damit die Auflösung der Provinz Westpreußen zur Folge. Am 11. Juli 1920 stimmte die Bevölkerung im Abstimmungsgebiet Marienwerder mit über 92 Prozent für den Verbleib bei Deutschland, während der Rest der Provinz ohne Abstimmung zwischen Deutschland, dem Polnischen Korridor und der Freien Stadt Danzig aufgeteilt wurde. In der Stadt Marienwerder hatten 7811 Einwohner für den Anschluss an Ostpreußen und 362 für den an Polen gestimmt. Daraufhin kam der Osten der Provinz Westpreußen als Regierungsbezirk Westpreußen mit Sitz in Marienwerder bis 1939 zur Provinz Ostpreußen. Nach dem Überfall auf Polen gehörte Marienwerder von 1939 bis 1945 zum Reichsgau Danzig-Westpreußen.

Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs wurde Marienwerder im Januar 1945 von deutscher Seite evakuiert. Einige Wochen später besetzte die Rote Armee die Stadt. Das unzerstört gebliebene Marienwerder diente von März bis November der 2. Weißrussischen Front als Lazarettstadt. Es kam zu mehreren Bränden, denen die Altstadt zum Opfer fiel. Gemäß dem Potsdamer Abkommen kam Marienwerder unter die Verwaltung der Volksrepublik Polen. Sie benannte Marienwerder in „Kwidzyn“ um und ersetzte die vertriebene Einwohnerschaft vollständig durch Polen. Die in Marienwerder abgeräumten Trümmer gingen als Baumaterial nach Warschau. Seit 2002 wird die Altstadt auf historischem Grundriss wiederaufgebaut.

Wenn man zur Domkirche und den Resten der Ordensburg gelangt, ist man schon beeindruckt über die Größe des Ensembles. Leider muss ich feststellen, dass sowohl die Burg als auch die Domkirche seit 15 Uhr geschlossen haben. Da das Kassenhäuschen der Burg noch besetzt ist, lässt man mich noch freundlicherweise für fünf Minuten in den Innenhof der Burg. Obwohl ein Teil der Ordensburg im 16. Jhdt. abgerissen wurde, ist der Rest immer noch gewaltig. Da ich nicht in die Burg und in den Dom hineinkomme, mache ich ein Rundgang um den ganzen Bereich. Optisch fällt vor allem der der Burganlage vorgelagerte aber mit ihr durch einen überdachten Wehrgang verbundene gewaltige Dansker ins Auge, der angeblich als Wehrturm aber vor allem wie schon gelernt als Toilette genutzt wurde. Bei der Betrachtung des Danskers kommt mir in den Sinn, ob es sich hierbei nicht um das weltweit größte Toilettenhäuschen handelt. Tatsächlich ist der Dansker allein ein gewaltiges Bauwerk wie er mit seinem Wehrgang und den Bögen wie ein Viadukt in die Landschaft ragt. Unabhängig vom Dansker befindet sich ein zweiter Turm direkt am Berghang außerhalb der Burg in nördlicher Richtung gelegen. Es handelt sich um einen Brunnenturm, der auch über eine kleine gemauerte Brücke mit der Burg verbunden ist.

Nachdem ich um die Anlage herumgegangen bin und mich ein umgeschaut habe, sehe ich, dass die Tür zur Kathedrale an der Südseite offensteht. Da mich niemand daran hindert, gehe ich hinein und kann nun doch noch einige Blicke in den großen Kirchenraum werfen. Beim Bau der Kirche wurde auf eine Basilikaanlage verzichtet und stattdessen die Form eines zweistöckigen Chores gewählt. Interessant sind auch die Wandmalereien, die ich zeitlich nicht zuordnen kann und über die ich auch bisher nichts gefunden habe.

Mit der Domkirche unmittelbar verbunden ist jedoch die Geschichte der Dorothea von Montau, von der ich hier zum ersten Male erfahre und die auch heute noch eine durchaus lebendige Geschichte hat. Ich erzähle hier ihre Geschichte in der Kurzfassung nach Wikipedia. Dorothea von Montau (eigentlich Dorothea Swartze) (* 6. Februar 1347 in Groß Montau; † 25. Juni 1394 in Marienwerder) war eine Eremitin und Mystikerin. Sie entstammte einer vermögenden Bauernfamilie. Als Siebenjährige wurde sie bei einem Unfall mit kochendem Wasser verbrüht und starb fast. Bereits in der Kindheit begann Dorothea damit, sich Kasteiungen und asketische Übungen aufzuerlegen. Sie führte vor dem Kreuz Kniefälle unter Anleitung ihrer Mutter aus und wollte in der Fastenzeit keine Milchspeisen zu sich nehmen, obwohl sie dem Alter nach noch nicht zum Fasten verpflichtet gewesen wäre. Darüber hinaus berichtet ihr Biograph von Selbstverbrühungen, extremem Fasten, Verwundung der Füße, Schlafen in der Kälte und weiteren  merkwürdigen Praktiken.

Auf Drängen ihrer Familie heiratete sie einen Waffenschmied aus Danzig. Der Ehe entstammten neun Kinder, von denen nur eine Tochter (die später Ordensfrau in Kulm wurde) überlebte. Kurz nach der Hochzeit hatte Dorothea von Montau die ersten Visionen. In ihren Berichten über diese mystischen Erfahrungen heißt es:
„[…] von großer Wollust wurde Leib und Seele hinfließend, und die Seele floß von großer hitziger Liebe und Wollust gerade so wie ein Erz, das geschmolzen war, und wurde eins im Geiste mit unserem lieben Herrn.“
Wie andere heiliggesprochene Ehefrauen habe Dorothea mit Selbstverletzungen ihre Wollust bekämpft, die zu ihrer Zeit in der Kirche als Sünde galt. Nach dem Tode ihres Ehemannes im Jahre 1389 unternahm sie in den Jahren 1389-1390 eine Pilgerreise nach Rom. 1390 siedelte Dorothea nach Marienwerder über. Dort begegnete sie dem Domdekan und Deutschordenspriester Johannes Marienwerder, ihrem zukünftigen Beichtvater und Biographen. 1391 wurde ihr in Danzig die Verbrennung als Hexe angedroht, da sie angeblich im Glauben irrte. Ihr wurden die in ihren Beichtgesprächen berichteten Visionen vorgehalten. Eine drohende Verbrennung konnte ihr Beichtvater Johannes von Marienwerder gerade noch verhindern. Dorothea verschenkte ihr Vermögen und zog sich bis zu ihrem Lebensende als Reklusin in eine Zelle zurück, die an den Gebäudekomplex des Domes von Marienwerder angebaut worden war. Die Fama über ihre Zumauerung verbreitete sich schnell in der Gegend. Deshalb kamen Scharen von Pilgern nach Marienwerder, um spirituelle und moralische Ratschläge von der berühmten Einsiedlerin zu hören und sogar für einen Moment einer Person nahe zu sein, die bereits zu Lebzeiten vom Stigma des außergewöhnlichen Kontakts mit Gott geprägt war. Papst Paul VI. sprach Dorothea von Montau 1976 heilig. Der schon kurz nach ihrem Tode angestrengte und vom Deutschen Orden unterstützte Heiligsprechungsprozess war seit dem Jahre 1404 nicht weiter betrieben und erst 1955 wieder aufgenommen worden. Die Lebensbeschreibung Dorotheas durch Johannes Marienwerder war erstmals als Inkunabel 1492 in Marienburg erschienen. Sie fand sogar Eingang in die Erzählliteratur des 20 Jhdt.. So verarbeitete Günter Grass ihre Geschichte in seinem 1977 erschienenen Roman Der Butt aus der Sicht ihres verbitterten Ehemanns.

Soweit zur Burganlage und Domkirche in Kwidzyn. Nun mache ich noch einen Rundgang durch die Innenstadt der Stadt von etwa 38 Tsd. Einwohnern. Mein Weg führt mich zunächst an der Alten Synagoge vorbei, die 1830 bis 1832 errichtet wurde. Die profanierte Synagoge ist zwar ein geschütztes Kulturdenkmal aber inzwischen so überwachsen, dass man weder nahe an sie heran kommt, noch viel von ihr sehen kann. Eigentlich lugt nur noch das Dach aus dem Wildwuchs, der sie umgibt, hervor. Anders steht es um die Kirche der Heiligen Dreifaltigkeit, die 1846–1858 als erste katholische Kirche in der Stadt seit der Reformation nach Entwurf von Karl Friedrich Schinkel im Rundbogenstil als Ziegelbau auf einem Steinfundament errichtet wurde. Der Bau der beiden Türme wurde 1886 abgeschlossen. Die Kirche ist eine dreischiffige Basilika mit einer fünfseitigen Apsis am Chor auf der Ostseite. Der Haupteingang besteht aus drei miteinander verbundenen Portalen. Über den Portalen sind die Heiligenfiguren der Apostel Petrus und Paulus angebracht. Dieser Kirche statte ich nun noch einen Besuch ab.

Den Abend verbringe ich dann im Restaurant des Hotels.

Tagesstrecke: 43,61 Km

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