Heute wieder eine etwas längere Strecke. Es geht von Torun nach Chelmno (Kulm) durch das Kulmerland. Das Kulmerland ist eine historische Landschaft in der polnischen Woiwodschaft Kujawien-Pommern, benannt nach ihrer Hauptstadt Culm/Kulm (heute Chełmno). Das flache und fruchtbare Land wird von den Flüssen Weichsel im Westen, Drewenz im Süden und Ossa im Norden begrenzt. Während der feudalen Zersplitterung Polens (1138–1320) waren Teile des Kulmerlands zeitweilig von Herrschern des polnischen Teilherzogtums Masowien beherrscht, gelangten aber zeitweilig auch in die Hand der nördlich benachbarten baltischen Prußen.

1215 nahm mit Christian von Preußen, einem Zisterzienser aus Pommern, der erste Bischof Preußens seinen Sitz in Kulm. Von dort aus wurden nun die Versuche der Christianisierung der Prußen forciert. Diese wehrten sich erbittert gegen die Versuche, sie religiös und weltlich zu unterwerfen, und reagierten mit Gegenangriffen auf schon christianisierte Gebiete wie das Kulmer Land und Masowien. Beim prußischen Einfall von 1216 wurde nicht nur die Burg von Kulm zerstört, sondern auch Kirchen und Dörfer in Schutt und Asche gelegt sowie deren Bewohner verschleppt. In den folgenden Jahren unternommene Gegenstöße deutscher und polnischer Kreuzfahrer, die von Bischof Christian mitorganisiert worden waren und an denen auch polnische Kleriker teilnahmen, brachten keine militärische Entscheidung. Herzog Konrad von Masowien und Kujawien (einschließlich des Kulmer Landes), der 1228–1232 Seniorherzog von ganz Polen war, konnte dieser Überfälle selbst nicht mehr Herr werden und die Prußen bedrohten auch andere Regionen. Er und der Bischof Guntbert übergaben im Jahr 1222 in Polazk die in ihrem Besitz befindlichen Anteile am Kulmerland Bischof Christian, damit dieser für den Wiederaufbau und die Befestigung des Schlosses Culm durch die damaligen Kreuzfahrer Sorge trage. Nachdem der Deutsche Orden zunächst nicht in der Region aktiv werden wollte, überließ Herzog Konrad von Masowien im April 1228 (oder am 16. Juni 1230, Vertrag von Kruschwitz) dem Deutschen Orden das Kulmerland als Machtbasis für den Kreuzzug gegen die Prußen. Im Jahr 1231 gab Bischof Christian seine gesamten Anteile am Kulmerland an den Deutschen Orden weiter. Papst Gregor IX bestätigte im selben Jahr dem Deutschen Orden die von Bischof Christian und von Konrad von Masowien erhaltenen Besitzungen im Kulmerland. Auch bestätigte Papst Gregor IX. im Jahr 1231 Konrad von Masovien auf dessen Ersuchen die Schenkung des Kulmerlandes an den Deutschen Orden. In der Bulle von Rieti legte Papst Gregor IX. 1234 fest, dass der Deutsche Orden für sein Territorium im Kulmerland und in Preußen nur der Kirche unterstehe und keiner weltlichen Macht lehenspflichtig sei. So nahm der Deutsche Orden ab 1231 vom Kulmerland seinen Ausgang zur Gründung und im Laufe der nächsten beiden Jahrhunderte zur Expansion eines eigenständigen Ordensstaates.

Auf meiner Fahrt raus aus Torun schaue ich plötzlich auf ein ziemlich pompöses tempelartiges aber neues Bauwerk, dessen Sinn und Bedeutung ich vor Ort nicht erfassen kann. Bei nachträglicher Recherche bekomme ich raus, dass es sich um das Sanktuarium der Jungfrau Maria Stern der Neuevangelisierung und des hl. Johannes Paul II. handelt und um ein junges polnisches Heiligtum handelt. Das Sanktuarium entstand auf Initiative Pater Rydzyks, der das Pontifikat von Papst Johannes Paul II. mit einem eigenen Sanktuarium, also einem Wallfahrtsort, würdigen wollte. Pater Rydzek ist in Polen eine bedeutende Persönlichkeit nicht nur als Theologe, sondern auch als erfolgreicher Unternehmer. Er gründete 1991 den Rundfunksender Radio Maryja. Der große Erfolg bewog ihn in den folgenden Jahren zur Gründung weiterer Unternehmungen, u. a. der „Hochschule für Sozial- und Medienkultur“ in Toruń, deren Rektor er ist, des katholischen Fernsehsenders TV Trwam und der Tageszeitung Nasz Dziennik (Unser Journal). Die von Rydzyk gegründeten Unternehmen befassen sich inhaltlich in erster Linie mit der Lehre der katholischen Kirche sowie gesellschaftspolitischen Themen. Offizielles Ziel ist dabei die Evangelisierung. Kritiker werfen ihm vor, er propagiere Nationalismus sowie katholischen Traditionalismus und stelle die Lehre der katholischen Kirche verzerrt dar. Auch aufgrund von antisemitischen Aussagen und politischer Meinungsmache steht er in der Kritik. Befürworter und Freunde Rydzyks schätzen ihn dagegen als charismatische Persönlichkeit, die gegen den moralischen Verfall sowie für katholische Werte kämpfe. Sein Einfluss auf die politische Szene und insbesondere das Lager des Konservatismus wie das der derzeitigen polnischen Regierung wird als immens angesehen.

Ein Stück weiter fällt der Blick auf einen Park- oder Gartenlandschaft. Hier sieht man etwa 100 Stelen. Es handelt sich um den Nationaler Gedenkpark in Toruń – ein Ort der an die Polen erinnern soll, die während des Zweiten Weltkriegs ihr Leben riskierten, um Juden zu retten. Auch hier taucht wieder Pater Rydzyk als einer der Urheber auf. Der Park wurde erst 2020 eingeweiht. An der Einweihungszeremonie nahm die ganze konservative polnische Führungsschicht teil. Im Park befinden sich etwa hundert Podeste, auf denen insgesamt 18.457 Namen von Polen platziert wurden, die nach Angaben der Initiatoren des Baus während des Zweiten Weltkriegs Juden retteten. Die Podeste bzw. Stelen sind in Form eines Umrisses der Grenzen Polens angeordnet. Bezeichnend ist, dass der Park nichts mit dem Preis der Gerechten unter den Völkern zu tun hat, den Yad Vashem 6.992 Menschen aus Polen verliehen hat. Im Hintergrund sieht man den Campus der Höheren Schule für Soziales und Medienkultur. Die Gesamtanlage ist ein schönes Beispiel für den offensiven Still zahlreicher katholischer Kräfte für einen traditionellen konservativen national geprägten Katholizismus, der offensichtlich auch teilweise sehr erfolgreich in Polen ist.

Nach diesem Exkurs führt der Weichsel-Radweg, der zunächst straßenbegleitend aus Torun herausführt, nun abseits der Nationalstraße 80 auf mehr oder weniger passablen Radwegen durch ebenes und landwirtschaftliches Gebiet, gelegentlich auch durch Wälder. Nach einigen Kilometern komme ich an den Ruinen eines ehemaligen evangelischen deutschen Friedhof vorbei, den die Bewohner des Dorfes Schwarzbruch Anfang des 20. Jahrhundert errichtet hatten. Für die nächsten 30 Kilometer ist der Weg dann uninteressant bis ich Ostromecko erreiche und vor einem frisch restaurierten Schloss stehe, hinter dem sich ein sehr schöner Landschaftspark erstreckt. In Ostromecko befinden sich sogar zwei Schlösser. Das ältere wurde 1758–1766 im spätbarocken Stil erbaut; das größere, klassizistische entstand 1849 nach Plänen des Schinkelschülers Eduard Titz. Die Schlösser gehörten der 1629 geadelten, aus Böhmen stammenden Familie Schönborn und von 1890 bis 1945 der Familie von Alvensleben. Der Übergang kam durch die Eheschließung des Albrecht von Alvensleben (1848-1928) mit Martha von Schönborn (1854–1915), Erbin des Fideikommisses Ostrometzko. In dem sehr schönen Landschaftspark und vor allem bei wieder sehr schönem Wetter setze ich mich auf eine Bank und mache Mittagspause mit zwei Käselaugenstangen und zwei Bananen. Ich genieße die Landschaft und schaue dem Treiben im Park zu.

Nachdem ich weitergefahren bin, komme ich nach einiger Zeit in das Dorf Czarze, wo eine sehr auffallende Kirche steht. Auffallend, weil sie alt ist und einen modernen Turm hat. Der Ursprungsbau scheint gotisch zu sein. Da die Tür offen ist, gelingt mir auch ein Blick ins Innere, der ein üppige barocke Ausstattung aufweist. Der weitere Weg führt nun entlang der Weichsel, sogar mit gelegentlichen Blicken auf den Fluss. Kurz vor Chelmno komme ich noch an dem auf einem Hügel gelegenen Starogrod vorbei. Hier hatte der Deutsche Orden schon 1232 eine Burg errichtet. Sie war nach Thorn die zweite Burg des Deutschen Ordens im Kulmerland. Aus der Burg entwickelte sich wohl später ein Schloss. 1505 wurde der Ort dem Bischof vom Kulm geschenkt, der das Schloss lange Zeit als Residenz nutzte. 1754 wurde die Kirche der Heiligen Barbara erbaut. Das baufällige Schloss wurde 1777 abgetragen und die Materialien zum Festungsbau nach Graudenz gebracht. Die Kirche der Heiligen Barbara ist noch heute weithin sichtbar. Schließlich komme ich am Nachmittag in Chelmno an. Hier werde ich im Pensjonat Stary Spichrz (Pension zum Alten Getreidespeicher) freundlich empfangen. Ich bekomme ein hübsches Zimmer und darf mein Fahrrad sicher in die Ecke des urigen Gastraums stellen. Auch hier werde ich zwei Nächte bleiben, weil auch Chelmno als Ausgangsstätte des Deutschen Ordens und des Deutschordenstaates  zahlreiche Sehenswürdigkeiten verspricht. Neben dem Pensionat ist übrigens eine kleine Privatbrauerei. Hier trinke ich dann bei dem warmen Wetter erst einmal ein kühle Blondes, was nach der Fahrt ausgesprochen gut bekommt.

Abendessen kann ich in der Pension und das Bier hole ich mir nebenan in der Brauerei. Brauerei und Pension gehören wirtschaftlich offensichtlich zusammen. Ich bestelle ein Pizza und bin sehr zufrieden damit. Danach mache ich noch eine Verdauungsspaziergang durch das inzwischen dunkle Chelmno bis zum Marktplatz.

Tagesstrecke: 76,35 Km

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