22. Tag: 9. Mai 2023 – Von Michalowo nach Bialowieza

Ein wunderschöner Tag heute. Die Sonne scheint durchgehend, es wird wärmer und ich kann wieder die Sandalen anziehen und das Thermounterhemd einpacken. Das Frühstück ist ordentlich, für ein polnisches Frühstück aber eher bescheiden, natürlich dennoch ausreichend.

Ich fahre durch eine schöne Landschaft, meistens durch Wald. Hier im Osten sind mit die größten zusammenhängenden Waldgebiete Europas. Ich vermute sie werden leediglich von den finnischen Wäldern noch „in den Schatten gestellt“. In Nowa Wola, nur wenige Kilometer von Michalowo entfern, verweile ich ein paar Minuten an der orthodoxen Holzkirche, die wohl dem Erzengel Michael geweiht ist. Erbaut wurde sie im Jahre 1908, brannte jedoch 1915. Die Generalsanierung erfolgte dann wohl erst ein den 1990er Jahren innen und in den 2000er Jahren von außen. Insofern erstrahlt die Kirche heute in neuem Glanz.

Ansonsten gibt es auf der Strecke außer Natur wenig zu sehen. Erwähnenswert ist noch der Stausee Siemianowskie. Der aufgestauter Stausee im oberen Narew-Tal, liegt direkt nördlich des Białowieża-Waldes. Er entstand in den Jahren 1977-1990. Der Stausee befindet sich in den Gemeinden Michałowo und Narewka – ein Gebiet, das vom polnischen Projekt „Green Lungs“ (Grüne Lunge) abgedeckt wird. Der Stausee s0ll nach den Worten in der polnischen Wikipedia eine bedeutende Rolle in der Wirtschaft der Region spielen. Zu seinen Aufgaben gehören die Wasserversorgung in Niedrigdruckperioden des Narew-Nationalparks auf einer Fläche von über 20.6000 ha, die Bewässerung von ca. 7000 ha landwirtschaftlicher Nutzfläche im Narew-Tal und ca. 30.4 ha des Vizna-Sumpfes, die Nutzung von Staudämmen für Energiezwecke, das organisierte Fischereimanagement und die Entwicklung von Tourismus und Erholung.

In Guszczewina treffe ich auf ein Denkmal, das bei näherer Betrachtung mein Interesse weckt und mich dann, nachdem ich über das Schicksal der dargestellten Frau gelesen habe, mich doch sehr betroffen zurücklässt. Die Frau auf dem Denkmal ist im Gehen dargestellt wie sie offensichtlich so etwas wie Post oder Botschaften aushändigt. Meine erste Assoziation ist Postzustellerin, was mich verwundert, aber ich werde eines Richtigeren aber auch Schlechteren belehrt. Die Frau, die hier dargestellt ist, hieß Danuta Siedzikówna (1928-1946). Sie wurde hier in dem Dorf Guszczewina geboren und wuchs mit ihren Geschwistern in dem neben dem Denkmal stehenden Forsthaus auf. Ihr Vater war hier Förster und Soldat in der polnischen Heimatarmee, ihre Mutter wurde 1943 in der Nähe von Bialystok von der Gestapo ermordet.

Nach dem Tod ihrer Mutter gingen Danuta und und ihre Schwester Wiesława (1927-2004) im Herbst 1943 oder Frühjahr 1944 ebenfalls zur Polnischen Heimatarmee (AK) und erhielten eine medizinische Schulung. Nachdem Białystok von der Roten Armee erobert und die Besetzung durch die Wehrmacht damit beendet war, nahm Siedzikówna eine Tätigkeit als Angestellte der Forstverwaltung von Hajnówka auf. Mit anderen Angestellten der Forstverwaltung wurde sie vom NKWD und der polnischen Geheimpolizei (UB) im Juni 1945 wegen Zusammenarbeit mit Kräften der antikommunistischen Untergrundbewegung Zrzeszenie Wolność i Niezawisłość (WiN) festgenommen (siehe Verstoßene Soldaten). Während eines Gefangenentransports wurde sie von einer Partisanengruppe der ehemaligen Polnischen Heimatarmee aus Wilna befreit, die in dieser Gegend aktiv war.  In der nachfolgenden Zeit arbeitete Siedzikówna in den Gruppen des antikommunistischen Widerstands als medizinische Assistentin mit. 

Während dieser Zeit nahm Siedzikówna ihren Decknamen „Inka“ an. Ihre Brigade wurde im September 1945 aufgelöst und Siedzikówna nahm unter einem Falschnamen  eine Tätigkeit bei der Forstverwaltung von Miłomłyn im Powiat Ostródzki auf. Auf Grund der Repressalien durch die Kommunisten wurde die Brigade im Januar 1946 wieder mobilisiert. Im Frühjahr 1946 wurde sie von ihrem Vorgesetzten nach Gdańsk geschickt, um Nachschub an Verbandsmaterial abzuholen. Dort wurde sie am 20. Juli 1946 erneut von der polnischen Geheimpolizei festgenommen. Im Gefängnis weigerte sie sich auch unter Folter, ihre Kontaktpersonen zu den antikommunistischen Untergrundverbänden und die vereinbarten Treffpunkte preiszugeben.

Trotz der Tatsache, dass sie lediglich Krankenschwester war, wurde sie wegen aktiver Beteiligung an einem Angriff der Einheit auf Funktionäre der polnischen Geheimpolizei UB und der polnischen Polizei angeklagt. Ihr wurde vorgeworfen, sie habe einen Polizisten erschossen und anderen Partisanen Anweisungen erteilt. Die Zeugenaussagen der an dem Gefecht beteiligten Polizisten und Geheimpolizisten widersprachen sich, einige bestätigten, das sie geschossen und Anweisungen gegeben habe, andere widersprachen dem. Einer der Polizisten, sagte sogar unter Eid aus, dass sie ihn medizinisch versorgt habe, als er in dem Gefecht von anderen Partisanen verwundet worden war. Widersprüchliche Aussagen im Prozess gab es auch zu dem Vorwurf gegen sie, sie habe verwundete Polizisten erschossen. Auf Grund der widersprüchlichen Zeugenaussagen und der Absurdität der Anklage kam selbst das Gericht mit Abschluss der Beweisaufnahme zu dem Ergebnis, dass sie sich nicht aktiv an dem Angriff beteiligt habe. Ohne Rücksicht auf ihr Alter, sie war zum Prozesszeitpunkt erst 17 Jahre alt, wurde sie dennoch zum Tode verurteilt. Bolesław Bierut, der kommunistische Präsident der Volksrepublik Polen, weigerte sich in diesem Fall, anders als im Falle des Hauptverantwortlichen des Massakers von Jedwabne, einem Gnadengesuch stattzugeben, das ihr Pflichtverteidiger für sie eingereicht hatte, das sie selber jedoch nicht unterschreiben wollte. Danuta Siedzikówna wurde am 28. August 1946, sechs Tage vor ihrem 18. Geburtstag, zusammen mit einme anderen Mitstreiter  im Gefängnis von Gdańsk erschossen.

Nach dem Ende der kommunistischen Herrschaft in Polen wurde Wacław Krzyżanowski, der Hauptankläger im Prozess gegen Danuta Siedzikówna, der die Todesstrafe gefordert hatte, in den Jahren 1993 und erneut 2001 wegen zweier Justizmorde angeklagt. In beiden Fällen wurde er für unschuldig erklärt, sein Argument war jeweils, dass er nur am Rande mit den jeweiligen Fällen befasst gewesen wäre.

So viel zu der sehr mutigen aber auch tragischen Geschichte der Danuta Siezikówna und den auch in Polen üblichen Schauprozessen, denen dann sogar aktive Widerstandskämpfer gegen die nationalsozialistische Besatzungsmacht zum Opfer fielen. Ähnliches kennen wir ja auch aus Nachkriegprozessen in der ehemaligen DDR. Und es ist auch ein Beispiel dafür wie lange es dauert, bis die dafür ´Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. In Polen war das offensichtlich bis in die 2000er Jahre noch nicht (immer?) möglich. Ähnliches kennen wir ja auch aus der Strafjustiz der frühen Bundesrepublik. Heute ist man da bei uns viel rigoroser. Allerdings sind die Haupttäöter oft nicht zu Verantwortung gezogen worden. Es wirft dann schon Fragen, auch rechtsstaatliche Fragen auf, wenn man nun gegenüber fast Hundertjährigen vor dem Jugendstrafgericht, weil sie seinerzeit noch nicht volljährig waren Anklagen wegen Beihilfe zum Mord erhebt für Tätigkeiten als Sekretärinnen eines KZ-Kommandanten oder für andere Büroarbeiten.

Von Guszczewina geht es nun 15 Kilometer durch den Bialowieza-Urwald bis zum Ort Bialowieza. Hier habe ich mich im Agroturystyka Domek Pod Klonem (Das Ahornhaus) zunächst für drei Nächte eingebucht. Hier werde ich von Waldemar, dem Besitzer, freundlich empfangen und in das Haus eingewiesen. Es ist ein schönes Holzhaus und mein Zimmer ist einfach aber ordentlich und sinnvoll eingerichtet. Hier kann ich es die nächsten Tage aushalten. Ich bin in den ersten Tagen der einzige Bewohner des Hauses.

Nach einer kurzen Besichtigungstour im Ort, stelle ich fest, dass wir hier gut von der polnischen Armee geschützt werde. Da kaum Touristen um diese Zeit da sind, fallen die zahlreiche Soldaten durchaus auf. Auf dem großen Parkplatz im Zentrum des Ortes haben sie eine provisorische Kaserne aus Wohncontainern, Dixi Toiletten und, zumindest nehme ich das an, auch aus Waschcontainern errichtet. Wie das beim Militär oft so ist, sind viele Soldaten nicht sonderlich aktiv beschäftigt, sondern sitzen, laufen und beschäftigen sich sonst mit ganz unterschiedlichen Dingen. Einige hundert Meter weiter im Bereich des ehemaligen Zarenbahnhofs scheint dann ein operativer Bereich des polnischen Militärs aufgebaut zu sein. Sowohl die provisorische Kaserne als auch deren operativer Bereich sind natürlich besonders gesichert und auch bewacht. Hinein kommt da unbemerkt niemand.

Etwas schwierig gestaltet sich an diesem ersten Abend das Abendessen. Ich muss in einem Restaurant wohl des ersten Hotel des Ortes mein Abendessen einnehmen, weil das andere Restaurant geschlossen hat. Der Preis ist dann auch entsprechend hoch und das Essen qualitativ nicht besonders ansprechend. Aber was solls? Morgen gibt es sicher wieder andere Möglichkeiten.

Tagesstrecke: 67,40 Km; 13,89 Km/h; 229 Hm

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