19. Tag: 6. Mai 2023 – Von Tykocin nach Bialystok

Heute geht es nach Bialystok. Die Strecke ist lediglich um die 40 Kilometer und so gehe ich den Tag auch ohne Eile an. Das Frühstück in Kiermuzy ist wieder ein sehr schönes polnisches Buffet. Ich lasse es mir schmecken, auch wenn ich dabei ständig auf ein Bild mit einer gerade abgehackten Hand schauen muss. Es ist eben ein sehr uriges Restaurant.

Gegen 10:30 Uhr mache ich mich dann auf den Weg. Dabei stelle ich fest, dass im Umfeld des Hotels ein reges Treiben herrscht. Zunächst denke ich an einen Trödelmarkt. Es sind Dutzende vom Verkaufsständen aufgebaut, die sowohl Trödel, aber auch Kunsthandwerk und Lebensmittel aus der Region anbieten. Das geparkte Autoaufkommen ist schon beachtlich. und als ich losfahre kommen mir bis Tykocin aber auch noch eine Zeitlang darüber hinaus schon fast Schlangen von Autos entgegen. Wie ich später herausfinde ist der Jahrmarkt von Kiermusy eine feste Institution und findet jeden Monat statt.

Meine Fahrt führt über weite Strecken auf asphaltierten Straßen und 15 Km vor Bialystok auf einem straßenbegleitenden Radweg. Einzig etwas unangenehm ist der Gegenwind, der mir aus Osten entgegenbläst.

Dinge, die man auf der Strecke gesehen haben muss, gibt es wenige. Ein Holzkirche Zlotoria, aber sicher interessanter ist der kleine aber feine Sommerpalast der Familie Branicki. Der Palast wurde im Auftrag  von Jan Klemens Branicki erbaut. Er wurde ursprünglich 1725 bis 1730 errichtet. Nach dem Verfall wurde er 1757 fast baugleich neu errichtet. 1915 wurde er niedergebrannt und in den 1960er Jahren wieder aufgebaut. Hinter dem Palast erstreckt sich ein schöner Landschaftspark, den ich mir aber nicht näher angeschaut habe. Davor erstrecken sich aber leider ein nicht sehr schönes Gebäude einer alten, inzwischen stillgelegten Fabrik. Es ist die alte Fabrik, die Christian August Moes, der 1840 das Gelände der Sommerresidenz der Branickis zusammen mit dem Vorwerk erwarb und dort eine Textilfabrik errichtete. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges verlor die Familie Moes das Eigentum an der Fabrik. Zuvor hatten die sich zurückziehenden Truppen bereits 1915 große Teile der Maschinen demontiert und das Hauptgebäude gesprengt.

Schließlich komme ich noch an einem Denkmal vorbei, das an die Gefallenen oder Hingerichteten des polnischen Aufstands gegen die russische Vorherrschaft 1863 erinnert. Es ist, wenn ich es richtig verstanden habe, den über 400 von den Russen nach der Niederschlagung des Aufstandes hingerichteten Polen gewidmet.

Schließlich komme ich in Bialystok an, muss aber von der Stadtgrenze noch etwa 10 Kilometer bis zu meinem Quartier fahren. Es ist diesmal ein Apartmenthaus und ich bekomme ein sehr schönes, großes Apartment im obersten Stockwerk unter dem Dach, das sicher auf 40 Qm kommt. Hier richte ich mich erst einmal ein und begebe mich dann auf meinen ersten Stadtspaziergang in Bialystok.

Tagesstrecke. 42, 88 M,12,13 Km/h; 266 Hm

 

Spaziergang durch Bialystok

Bialystok ist schon wegen seiner Größe eine beeindruckende Stadt. Sie ist mit ihren fast 300 Tsd. Einwohnern die zehntgrößte Stadt Polens und ist neben Warschau die einzige der zehn Großstädte Polens, die seit 1990 einen Bevölkerungszuwachs verzeichnen kann. Wie immer, wenn ich eine größere Stadt besuche, versuche ich mich etwas mit der Geschichte vertraut zu machen. Meine Quelle ist dabei meistens Wikipedia. So auch hier in Bialystok.

So wurde Białystok im 16. Jahrhundert erstmals urkundlich erwähnt, ist also keine sonderlich alte Stadt. Ab 1665 gehörte es der Magnaten-Familie Branicki, die es zu ihrer Residenzstadt ausbaute. Auf Betreiben von Stefan Branicki erhielt Białystok 1692 das Stadtrecht, das der sächsische Kurfürst und König von Polen, August III., 1749 erneuerte.

Białystok und sein Umland kamen dann nach den polnischen Teilungen 1796 unter preußische Herrschaft und fielen nach dem Frieden von Tilsit (1807) an Russland. Dieser Umstand und die Errichtung einer Zollgrenze zwischen Kongresspolen und Russland im Jahr 1831 sorgten für einen Aufschwung der Stadt. Die Zollgrenze sorgte dafür, dass Betriebe aus Polen ihren Sitz nach dem jetzt russischen Białystok (Belostok) verlagerten, um weiter für die russische Armee produzieren zu können. Durch die Eröffnung der Warschau-Petersburger Eisenbahn, die durch Białystok führte, wurde die Stadt zu einem industriellen Zentrum. Im 19. und 20. Jahrhundert wurde die Stadt zu einem Zentrum des Maschinenbaus und der Textil-, Elektro-, Metall- und Bierindustrie.

Bialystok war schon immer eine multikulturelle Stadt. Um 1765 war Białystok zu 65–70 % von Polen, zu 20–25 % von Juden und zu 10 % von anderen Nationalitäten bewohnt. Doch bereits um 1800 machten Juden fast 40 % der Stadtbevölkerung aus, während Polen etwa 55 % ausmachten.

1897 hatte die Stadt rund 66.000 Einwohner. Dabei gaben 62 % der Bevölkerung Jiddisch als Muttersprache an, 17,2 % Polnisch, 10,3 % Russisch, 5,6 % Deutsch und 3,7 % Belarussisch. Daneben gab es noch einige hundert Lipka-Tataren in der Stadt.

Nach der Volkszählung von 1931 machten Polen 50 % der Bevölkerung Białystoks aus, Juden 45 %, andere Minderheiten 5 % (hauptsächlich Weißrussen und Russen). 1939, vor Ausbruch des Krieges, lebten 53 % Polen, 42 % Juden und etwa 5 % andere Minderheiten in der Stadt. Die Zahlen zeigen, dass sich die Stadt auch als ein bedeutendes jüdisches Zentrum entwickelte.

Im Ersten Weltkrieg erfolgte am 20. April 1915 ein deutscher Luftangriff auf Białystok, welcher 13 Tote und 34 Verletzte zur Folge hatte. Schwere Schäden richteten die russischen Truppen an, als sie sich am 13. August 1915 vor den heranrückenden Deutschen zurückzogen. Die Stadt blieb von da an bis zum 19. Februar 1919 unter deutscher Kontrolle.

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Białystok Teil der Zweiten Polnischen Republik. Soweit zunächst zur Geschichte Bialystoks. Da meine Unterkunft ganz in der Nähe des Marktplatzes liegt, führt mich mein erster Weg dorthin, zumal ich auch noch einiges für das Wochenende einkaufen muss, weil ich zumindest für das Frühstück Selbstversorger bin. Auf dem Weg dorthin komme ich an einem Denkmal für Ludwig Zamenhof (1859-1917) vorbei. Der Name sagt mir zunächst nichts. Später recherchiere ich und stelle fest, Zamenhof ist in Bialystok geboren und war ein Augenarzt. Er war jüdischen Glaubens und meist bekennender Zionist, sprach sich also für einen jüdischen Nationalstaat in Palästina aus, was ja später mit der Gründung des Staates Israel auch verwirklicht wurde.

Berühmt geworden ist Zamenhof allerdings mit etwas anderem. Er muss ein Sprachgenie gewesen sein. Die bevorzugte Sprache seines Vaters war Russisch, die der Mutter Jiddisch, auf der Straße dürfte er Polnisch gelernt haben. Er wuchs also schon multilingual auf. Wohl früh lernte er auch noch Deutsch und Französisch, in der Schule dann Griechisch, Latein und Englisch. Außerdem muss er Hebräisch gut beherrscht haben. Und er hatte eine Vision. Er träumte schon früh von einer neuen, leicht zu erlernenden Sprache, die der zerstrittenen Menschheit ein neutrales Instrument liefern könnte.

Gegen 1885 war Zamenhof mit seinem endgültigen Entwurf fertig, den er 1887 in verschiedenen Sprachen veröffentlichte, zuerst am 26. Juli auf russisch. Der deutsche Titel lautete: „Internationale Sprache“, und so hieß zunächst auch die Sprache. Da Zamenhof um seinen Ruf als Arzt fürchtete, gab er die vierzigseitige Broschüre unter dem Decknamen Dr. Esperanto heraus. (Esperanto heißt wörtlich ein Hoffender). Bald jedoch setzte sich dieses Pseudonym als Synonym für die Sprache selbst durch.

Letztlich hat sich Esperanto nicht als internationale Sprache durchgesetzt. Dennoch war es ein bedeutender Versuch auch zur Völkerverständigung im wahrsten Sinne des Wortes beizutragen. Was Sprachbarrieren bewirken und verhindern, merke ich inzwischen auf meinen Reisen durch Europa nur allzu sehr. – Man möge mir daher diesen Exkurs an dieser Stelle nachsehen.

Vom Marktplatz aus, hat man die drei herausragenden Sehenswürdigkeiten schon auf sehr engem Raum zusammen. Das Rathaus von Bialystok ist ein spätbarockes Gebäude, dass in der Mitte des Marktplatzes errichtet wurde. Der Platz heißt übrigens gar nicht offiziell Marktplatz, sondern Kosciuszko-Platz. Andrzej Kościuszko (1746 – 1817) war ein polnischer Militäringenieur, der im Russisch-Polnischen Krieg von 1792 und besonders als Anführer des nach ihm benannten letztlich erfolglosen Aufstandes von 1794 gegen die Aufteilung Polens unter Russland, Preußen und Österreich zum polnischen Nationalhelden wurde.

Der Bau des Rathauses begann 1745 auf Kosten des Patrons Jan Klemens Branicki. Die Arbeiten dauerten 16 Jahre. Das Rathaus war nie der  Sitz der lokalen Stadtverwaltung.  Es war eher das Symbol des Geschäfts. Der Verkauf und die Vermietung dieses Gebäudes bescherten den Branickis  ein hohes Einkommen. Das Rathaus wurde also als Symbol für den Reichtum und die Macht von Jan Klemens Branicki erbaut, der zu dieser Zeit einer der reichsten Magnaten Polens war. Es wird Rathaus genannt, weil es im Zentrum der Stadt erbaut wurde und als Ort für Treffen und Verhandlungen zwischen Kaufleuten diente. Heute sind daher passend zum symbolischen Wert des als Rathaus bezeichneten Gebäudes ein Museum und ein Restaurant untergebracht.

Unweit von diesem Rathaus auch noch ganz in der Nähe des Marktplatzes kommt man dann zum Domensemble. Der Begriff Ensemble trägt dem Umstand Rechnung, dass es sich eigentlich um zwei Kirchen handelt, die zumindest baulich miteinander verbunden sind. Da ist zunächst die alte Kirche aus dem 16. Jahrhundert mit üppiger barocker Ausstattung aus dem 18. Jahrhundert sowie der in neugotischem Stil gebaute Dom aus den Jahren 1904 bis 1915, in dem sich mehrere Kunstwerke wie der Hauptaltar und die Kanzel befinden. Leider komme ich in beide heute nicht rein, weil gerade Gottesdienst ist. Hier fällt mir mal wieder auf wie ganz anders als in Deutschland, die Kirchen bei den Gottesdiensten nach wie vor oft überfüllt sind, was auch dadurch zum Ausdruck kommt, dass allein am morgigen Sonntag zehn weitere Gottesdienste angesetzt sind. Also trolle ich mich hier wieder und hoffe morgen ein Zeitfenster zu finden, in dem ich mir auch das Innere der beiden Kirchen anschauen kann.

Man braucht von Dom nur schräg über die Straße zu gehen, dann steht man im Bann des sicher bedeutendsten Bauwerks von Bialystok, dem Branicki-Palast und seinem ausgedehnten Park. Vor dem Palast steht man aber noch gegenüber dem Dom im Bann des Denkmals für Jerzy Aleksander Popiełuszko (1947 -1984), der ein polnischer römisch-katholischer Priester war und aufgrund seiner Unterstützung der Opposition um die Solidarność von Offizieren des polnischen Staatssicherheitsdienstes ermordet wurde. Es ist ein wirklich ausdrucksstarkes Denkmal für diesen mutigen und unerschrockenen Mann.

Das Schloss der Branickis, dem ich mich nun zuwende, wurde im 17. Jahrhundert von Tylman van Gameren, einem der bedeutendsten polnischen Architekten des Brockzeitalters, für die Magnatenfamilie der Branicki errichtet und im 18. Jahrhundert umgebaut. Nachdem es 1944 zerstört worden war, erfolgte in den Jahren 1946 bis 1960 sein Wiederaufbau. Das Schloss wird derzeit von der Medizinischen Universität Białystok genutzt. Ich wandere etwas eine Stunde durch die Schlossanlage und die im französischen Stil der Barockzeit angelegte Gartenanlage. Es ist schon ein beeindruckendes Ensemble, das hier entstanden ist und die Stadt bis heute prägt. Freilich erinnert es wie so viele dieser Schlösser auch an das Schloss von Versailles und sollte damit auch Macht und Wohlstand des Erbauers jedem deutlich zeigen. Nicht umsonst wird es daher auch das Versailles Polens genannt.

Da es langsam zu dämmern beginnt sagt mir meine innere Uhr, dass es Zeit ist, die erste Besichtigungstour zu beenden und mir ein Lokal für das Abendessen zu suchen. Unweit des Schlosses werde ich in einer Seitenstraße, die vom Marktplatzt abgeht fündig und beschließe den Abend mit einem polnischen Bier und mit einem sogenannten Bauernburger. Dahinter verbirgt sich ein Cheeseburger mit Rindfleisch und noch angereichert mit zwei Reibekuchen oder Kartoffelpuffern wie man in meiner Kindheit im Rheinland sagte. Als ich das Lokal verlasse ist es schon fast dunkel geworden.

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