18. Tag: 5. Mai 2023 – Von Lomza über Jedwabne nach Tykocin

Das Frühstück im B&B Mohito hier in Lomza ist ausgezeichnet, das Zimmer ist leider etwas klein und er Blick aus dem Fenster ist trüb. Es bleibt zumindest bis zum Nachmittag bedeckt und kühl. Immerhin regnet es nicht oder höchstens mal ein paar Tropfen.

Nach dem Frühstück mache ich mich auf. Ich werde auf meiner Rückfahrt von Lomza ganz bewusst vom Green Velo abweichen. Ich fahre daher aus Lomza raus hinunter zum und über den Narew und auf der anderen Seite auf einer Woiwodschaftsstraße wieder hoch in den etwa 20 Kilometer nordöstlich von Lomza liegenden Ort Jedwabne. Diese Kleinstadt möchte ich besuchen, weil sie vor einigen Jahren auch international Aufsehen erregt hat. So titelte die Wochenzeitung DIE ZEIT im Jahre 2005 über den „Ort, der nicht bereuen will“. Im Juni 1941, beim deutschen Überfall auf die Sowjetunion, wurde der Ort von der deutschen Wehrmacht besetzt. Am 10. Juli 1941 wurden beim Massaker von Jedwabne etwa 340 der jüdischen Bewohner der Stadt ermordet und zwar durch polnische Einwohner des Ortes. Dies geschah unter wohlwollender Begleitung der SS-Einsatzgruppen und wahrscheinlich auch durch deren Anstiftung, aber es geschah auch aus einem Judenhass und einer antisemitischen Grundhaltung vieler polnischer Einwohner des Ortes.

Dabei trieben polnische Einwohner der Stadt die jüdischen Mitbewohner in eine Scheune, zündeten diese an und ließen ihre Mitbürger bei lebendigem Leib verbrennen. Für die Nationalsozialisten und die SS, für die die Judenvernichtung ja Programm war, war dies natürlich eine willkommene Abwechslung in ihrem grausamen und menschenverachtenden Verbrechen, dass sich auch Angehörige anderer Ethnien daran beteiligten. Zur Belohnung konnten die polnischen Täter dann den Besitz der ermordeten Juden plündern und übernehmen.

Zu diesem schrecklichen Ereignis gab es nach dem Krieg ein Strafverfahren gegen die polnischen Täter und Beteiligten. In den gerichtlichen Hauptverhandlungen am 16. und 17. Mai 1949 widerriefen viele der 22 angeklagten polnischen Einwohner von Jedwabne ihre nach eigener Aussage unter Folter erzwungenen Geständnisse. Zehn Angeklagte wurden freigesprochen, elf zu Freiheitsstrafen zwischen acht und fünfzehn Jahren und einer zum Tode verurteilt. Die Todesstrafe wurde nach einem Gnadenersuch vom kommunistischen polnischen Staatspräsidenten Bolesław Bierut in 15 Jahre Freiheitsstrafe umgewandelt

Für das Massaker wurde jahrzehntelang ausschließlich die deutsche Besatzungsmacht verantwortlich gemacht. Nach 1960 errichtete die Stadt einen Gedenkstein mit dem übersetzten Wortlaut: „Hier ereignete sich ein Martyrium der jüdischen Bevölkerung. Am 10. Juli 1941 verbrannten Gestapo und Hitler-Polizei 1.600 Personen bei lebendigem Leib.“ Die Zahl der Opfer wurde nach späteren Forschungen nach unten korrigiert. Bis heute weigern sich die Einwohner von Jedwabne irgendeine Verantwortung zu übernehmen.

Erst 2001 geriet das Thema in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit, nachdem der polnisch stämmige, in den USA arbeitende Historiker Jan Tomasz Gross im Jahr 2000 das Buch Nachbarn. Der Mord an den Juden von Jedwabne veröffentlicht hatte, in dem er die bisherige Darstellung des Massakers in Jedwabne sehr differenziert aufarbeitete. Diese Veröffentlichung leitete eine Aufarbeitung des Massakers von Jedwabne und von Polen an Juden begangenen Massakern im Zweiten Weltkrieg überhaupt ein und löste nicht nur in Polen eine intensive Diskussion aus.

Zum 60. Jahrestag der Geschehnisse fand am 10. Juli 2001 in Jedwabne eine Gedenkfeier statt, bei der Polens Staatspräsident Aleksander Kwaśniewski in seinem und dem Namen jener Polen, deren Gewissen durch das Verbrechen aufgewühlt wurde, um Vergebung für das Massaker bat. Dabei wurde auch ein neues Denkmal aufgestellt mit der Inschrift: „Im Gedenken an die Juden aus Jedwabne und Umgebung, der ermordeten Männer, Frauen und Kinder, Mitbewohner dieser Gegend, die an dieser Stelle lebendig verbrannt wurden“. Auch dieses Denkmal verzichtet darauf die Beteiligung der Einwohner von Jedwabne ausdrücklich zu benennen. Von der Mehrheit der Einwohner Jedwabnes wurde die Feierlichkeit dennoch abgelehnt und boykottiert. Aus Protest ließ der katholische Priester während der Veranstaltung die Kirchenglocken läuten. In Fenstern des Ortes hingen Zettel mit Beschriftungen wie Wir bitten nicht um Verzeihung oder Wir werden für die nicht begangenen Gräueltaten nicht um Verzeihung bitten. So wahr uns Gott helfe. Dem damaligen Bürgermeister von Jedwabne, Krzysztof Godlewski, der sich stark für die Gedenkfeier eingesetzt hatte, wurde das Leben im Anschluss so schwer gemacht, dass er sich zur Emigration in die USA genötigt sah. Die nach 2001 durchgeführten Gedenkveranstaltungen wurden von Einwohnern Jedwabnes nicht besucht.

Um dem Ganzen noch die Krone aufzusetzen verabschiedete 2006 die damalige PiS-Regierung als Reaktion auf die Veröffentlichung des Buches von Jan T. Gross ein als „Lex Gross“ bekanntes Gesetz, das jeden, der „die polnische Nation öffentlich der Teilnahme, Organisation oder Verantwortung für kommunistische oder nationalsozialistische Verbrechen bezichtigt“ mit einer bis zu dreijährigen Haftstrafe bedrohte. Dieses Gesetz wurde 2008 allerdings vom polnischen Verfassungsgericht aufgehoben.

Ich fahre also in den Ort Jedwabne, um mir selbst ein Bild davon zu machen, ob und wie man mit dieser Vergangenheit umgeht. Als erstes komme ich auf den Hauptplatz der Stadt, wie hier in Podlachien auch schon in anderen Städten gesehen eine große Grünanlage meistens vor der Kirche des Ortes. Hier ist ein größeres Denkmal, dass den polnischen Opfern der Verbrechen der Russen bzw. der Sowjetunion gedenkt. Grundsätzlich ist dagegen ja nichts zu sagen, weil es diese Verbrechen ja unzweifelhaft gab. Aber ob das gerade in diesem Ort im Vordergrund auf dem zentralen Platz stehen sollte, scheint mir doch etwas zweifelhaft.

Ich fahre dann zu dem Ort des Verbrechens und muss feststellen, dass ich doch insbesondere von älteren Bewohnern der Kleinstadt recht abschätzig und misstrauisch angeschaut werde. Mir fällt das deshalb auf, weil ich sonst mit meinem natürlich ein gewisses Aufsehen auslösendem Fahrrad und Gepäck meist freundlich gegrüßt werde. In Jedwabne war das auf jeden Fall nicht der Fall. An der Gedenkstätte selbst trübt der gerade dunkelverhangene Himmel noch mehr aufs Gemüt, ist aber nicht ganz unpassend für diesen Ort.

Der Ort der Scheune ist mit quadratisch aufgestellten Steinquadern abgesteckt. In der Mitte der Gedenkstein mit den besagten Inschriften und auf dem Stein die Silhouette einer kleinen Tür aus verbrannten Holzbohlen. Gegenüber soll der Jüdische Friedhof gewesen sein. Auch er ist mit Steinquadern teilweise umgeben. Der Blick auf diese Gedenkstätte erschüttert mich dann doch. Man blickt nicht auf einen Friedhof, man blickt auf eine Brache. Die Bäume und Sträucher, die hier einmal standen, sind offensichtlich vor nicht allzu langer Zeit abgeholzt worden und Grabsteine sucht man hier auch vergeben.

Ich verlasse den Ort ziemlich schockiert. Freilich mache ich mir auch klar, dass dies kein Phänomen nur in Polen ist. Der Antisemitismus ist ja ein durchaus internationales Problem und wenn wir auch dachten, dass er nach den schrecklichen Ereignissen im Zweiten Weltkrieg, für die allein Deutschland verantwortlich war, inzwischen überwunden hätten, stellen wir heute wieder zunehmend eine Auferstehung des Antisemitismus nicht nur, aber auch wieder in Deutschland fest.

Zur polnischen Geschichte gehört in diesem Zusammenhang natürlich auch, dass gerade in Polen auch sehr viele nicht jüdische Bürger ihren jüdischen Mitbürgern bei Ihren Leiden zur Seite gestanden haben, sie unterstützt und versteckt haben. Das gab es in einem viel größeren Ausmaß als zumindest in Deutschland.

Problematisch bleibt es allerdings, wenn Regierungen wie die PiS in Polen die Aufklärung von Verdrängungen der eigenen Verantwortung versucht strafrechtlich zu sanktionieren. Hier sieht man deutlich, welche Folgen gerade populistische Regierungen heraufbeschwören können.

Mit diesen Gedanken kehre ich dann nach weiten 40 Kilometern auf einer recht befahrenen Nationalstraße, einer weniger befahrenen Woiwodschaftsstraße und schließlich noch einige Kilometer auf einer Schotterstraße zu meinem Ausgangspunkt Kiermusy zurück. Hier habe ich heute ein neues Quartier. Nachdem ich es bezogen habe, mache ich mich etwas frisch und fahre in das vier Kilometer entfernte Tykocin, um mir dort eine andere Seite des Umgangs mit der jüdischen Vergangenheit anzusehen.

Tagesstrecke: 72,26 Km; 13,49 Km/h; 254 Hm

Spaziergang durch Tykocin

Ein völlig anderes Bild als Jedwabne gibt Tykocin ab. Tykocin hat etwa 2000 Einwohner und ist damit ähnlich groß wie Jedwabne. Von ähnlichen Vorkommnissen wie in Jedwabne ist aus Tykocin nichts bekannt. Allerdings haben hier die Nationalsozialisten selber gemordet, um ihr Programm, die Vernichtung der Juden, überall umzusetzen. Den Wald mit der Gedenkstätte, wo die Juden aus Tykocin ermordet wurden, habe ich ja vorgestern bereits besucht.

Zwischen dem 11. und dem 14. Jahrhundert befand sich in der Nähe eine Burg der Herzöge von Masowien. Infolge des sich entwickelnden Handels zwischen Polen und dem Großfürstentum Litauen schuf man im 14. Jahrhundert neue, kürzere Handelswege. An einem von ihnen, am Narew-Übergang, entstand Tykocin. Der damalige masowische Herzog verlieh ihm 1425 die Stadtrechte nach Kulmer Recht. Nach einer vorübergehenden Zugehörigkeit zu Litauen wurde die Stadt 1656 dem Hetman Stefan Czarniecki als Dank für seine Siege gegen die Schweden geschenkt. 1705 gründete in Tykocin König August der Starke den Orden vom Weißen Adler, den ältesten und wichtigsten Orden Polens. Der Orden wurde von ihm vor allem deshalb gestiftet, weil er sich in Bedrängnis befand. Vorbild war der kurz vorher gestiftete preußische Schwarzen Adlerordens. Bei der Dritten Teilung Polens 1795 fiel Tykocin an Preußen, 1807 gehörte es zum Herzogtum Warschau und wurde 1815 Teil des russischen Kongresspolens. Im Zuge der sowjetischen Besetzung Ostpolens 1939 marschierte die Rote Armee in Tykocin ein, der nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion 1941 die deutsche Wehrmacht folgte, die eine Schreckensherrschaft ausübte, der die jüdische Bevölkerung, wie gesehen, beinahe komplett zum Opfer.

Das erste Mal nachgewiesen sind Juden in Tykocin bereits im Jahre 1522, als zehn Familien aus Grodno zur Förderung des Handels angesiedelt wurden. 1576 gewährte der König ein allgemeines Niederlassungsrecht, das 1633 bestätigt wurde. Im Jahre 1800 waren etwa 70 % der Stadtbevölkerung Juden, vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs immer noch etwa 50 %.

Zunächst fällt einem, wenn man nach Tykocin kommt, die Dreifaltigkeitskirche und der mehrere hundert Meter lange Marktplatz auf. Hier mache ich Station und besorge mir in der nahegelegenen Touristeninformation eine kleine Broschüre zu den Hauptsehenswürdigkeiten von Tykocin. Dann schaue ich mir zunächst das üppige Barock der Dreifaltigkeitskirche an, betrachte dann das an zentraler Stelle auf dem Marktplatz stehende Denkmal  für Stefan Czarniecki aus dem Jahre 1763, das wohl als das älteste weltliche Denkmal Polens gilt und fahre dann mit dem Fahrrad zum aus Ruinen teilweise wiedererrichtetem Schloss König Sigismund Augusts, das einige hundert Meter entfernt auf der anderen Seite des Narew liegt. Heute sind in dem wiedererrichteten Bauwerk ein Hotel und ein Museum untergebracht.

Danach geht es zurück in die Stadt und ich schaue mir das jüdische Viertel an. Beeindruckend die große Synagoge, die wahrlich in neuem Glanz erstrahlt. Ich wundere mich, dass die Nazis dieses Bauwerk überhaupt haben stehen gelassen, während es doch sonst eher üblich war auch die Bauwerke der Juden und insbesondere die Synagogen zu zerstören. Die Antwort findet sich wie so oft bei Wikipedia.

So wurde die Synagoge während des Zweiten Weltkriegs von den deutschen Besatzern verwüstet und als Lager genutzt. In den 1970er Jahren wurde das Gebäude renoviert. Heute ist ein Jüdisches Museum im Synagogengebäude untergebracht. Ich interpretiere dies so, dass Tykocin zu seiner jüdischen Vergangenheit steht und sie auch soweit als möglich bewahren möchte, obwohl nicht davon auszugehen ist, dass noch viele Juden in Tykocin leben.

Die Große Synagoge in Tykocin, wurde 1642 an der Stelle eines hölzernen Vorgängerbaus aus dem 15. Jahrhundert errichtet. Die profanierte Synagoge ist seit 1957 ein geschütztes Kulturdenkmal. Direkt neben der Großen Synagoge gibt es noch die Kleine Synagoge in Tykocin. Sie wurde Ende des 18. Jahrhunderts errichtet. Sie wurde profaniert ist seit 1962 ebenfalls ein geschütztes Kulturdenkmal. Natürlich wurde auch diese Synagoge während des Zweiten Weltkriegs stark beschädigt und in den 1970er Jahren wiederhergestellt. Heute ist das Stadtmuseum im Synagogengebäude untergebracht.

Da die Zeit fortgeschritten ist und beide Museen inzwischen geschlossen sind, brauche ich mir nicht mehr die Frage zu beantworten, ob ich heute noch ein Museum besuchen möchte. Obwohl mich die Große Synagoge schon interessiert hätte, weil sie neben der Synagoge in der weißrussischen Stadt Slonim die einzige Synagoge aus dem 17. Jahrhundert sein soll, in der die Stützbima nahezu unverändert erhalten ist, die Ausdruck eines sich in der polnisch-litauischen Adelsrepublik ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts entwickelnden eigenständigen, baugeschichtlich völlig neuartigen Aufbaus einer Synagoge ist.

Da dieser Blick mir aber durch die Schließung des Museums verwehrt bleibt, mache ich mich auf den Rückweg nach Kiermusy und begebe mich zum Abendessen in das Restaurant meiner Unterkunft.

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