18. und 19. Tag (22. und 23. Juli 2021): Rathenow

von 28. August 2021Aktuelles

Zwei fahrradfreie Tage. Das Frühstück in meiner Pension am Schwedendamm ist nicht sonderlich toll. Es gibt kein Müsli und kein Obst. Aber man wird satt. Anstatt mit dem Fahrrad zu fahren, bin ich insgesamt 20 Kilometer durch Rathenow gelaufen. Um es vorwegzunehmen, viel hat Rathenow nicht zu bieten. Auch der touristische Stadtplan von Rathenow nennt gerade einmal fünf Hauptsehenswürdigkeiten.

Rathenow wird als Wiege der industriellen Optik in Deutschland bezeichnet. Johann Heinrich August Duncker entwickelte in Rathenow die erste Vielspindelschleifmaschine zur rationellen Herstellung von Brillengläsern und begründete dort 1801 die optische Industrie. Sein Sohn und später sein Enkel Emil Busch führten die „Optische Industrie Anstalt“ erfolgreich fort. Die spätere „Emil Busch AG“ wurde zu einer der führenden Firmen für optische Erzeugnisse in Europa. In der Mitte des 19. Jahrhunderts gründeten sich weitere Groß-, Mittel- und Kleinstbetriebe, darunter die spätere zweitgrößte Firma „Nitsche & Günther“. Bekannt war auch die Ziegelindustrie; ein Großteil der Ziegel für die Bauten von Schloss Sanssouci, des Holländischen Viertels in Potsdam und des Roten Rathauses in Berlin stammen aus Rathenower Produktion. Die Industrie entwickelte sich im 19. Jahrhundert durch den anhaltenden Bauboom in Berlin und Brandenburg zu einem bedeutenden Arbeitgeber der Region. Entlang der Havel von Plaue bis Havelberg entstanden über 50 Betriebe. Die Marke „Rathenow“ wurde auf allen Ziegelsteinen gestempelt. Auf dem Rathenower Stadtgebiet gab es bereits seit dem Mittelalter eine Stadtziegelei, später entstanden weitere Ziegeleien am Havelufer. Nach 1920 wurden die meisten Ziegeleien geschlossen, da der Rohstoff langsam zur Neige ging und die Produktion dadurch unrentabel wurde.

Rathenow hat unter den Kriegseinwirkungen sehr gelitten. Rathenow wurde am 22. März 1944 durch amerikanische Luftangriffe getroffen und dabei wurden mehrere Menschen getötet. Am 18. April 1944 wurden durch Bombenabwurf eines US-amerikanischen Bomberverbandes rund 55 Menschen getötet, nach anderen Angaben 60 Menschen, und 2200 Bewohner obdachlos. Kurz vor Kriegsende im Mai 1945 kämpften einige versprengte deutsche Truppen gemeinsam mit dem Volkssturm unter dem Kommando von Generalfeldmarschall Keitel gegen die anrückenden sowjetischen Truppen, wobei etwa 70 Prozent der Stadt zerstört wurden. Heute ist die Stadt durchaus gefällig wieder hergestellt. Dabei hat sicher auch eine Rolle gespielt, das Rathenow einer der Schauplätze der Bundesgartenschau 2015 war.

Während der DDR-Zeit arbeiteten im VEB Rathenower Optische Werke (ROW) mehrere tausend Menschen. Ein Großteil der Länder des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe wurde von hier aus mit Brillen und optischen Geräten beliefert. Mit der deutschen Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion im Jahr 1990 brachen diese Märkte schlagartig weg, was natürlich in Rathenow zu einem dramatischen Verlust an Arbeitsplätzen führte. Basierend auf den in der Stadt vorhandenen qualifizierten Fachkräften auf dem Gebiet der optischen Industrie eröffnete der Optikkonzern Fielmann im Jahr 2002 ein neues Produktions- und Logistikzentrum mit 600 Beschäftigten in der Stadt. Dennoch herrscht in der Stadt eine vergleichsweise hohe Arbeitslosigkeit. während eine Die zwei Jahrzehnte andauernde Abwanderungsbewegung, vor allem jüngerer Bewohner, konnte erst in den 2010er Jahren gestoppt werden. Dennoch hat Rathenow seit der Wiedervereinigung ein Fünftel seiner Einwohner verloren.

Die herausragende Sehenswürdigkeit ist sicher die Kirche St. Marien-Andreas. So führt mich auch mein erster Weg vorgestern hier hin. Früher war sie Zentrum der Altstadt, von der aber heute nur noch der sie umgebende Kirchplatz geblieben ist. Die auf der höchsten Erhebung der ehemaligen Altstadt stehende evangelische St.-Marien-Andreas-Kirche wurde Anfang des 13. Jahrhunderts im spätromanischen Stil errichtet und im 15. und 16. Jahrhundert zu einer dreischiffigen Hallenkirche umgestaltet. Der frühe neugotische Westturm wurde nach einem Entwurf von Carl Wilhelm Redtel in den Jahren 1824 bis 1828 anstelle des ursprünglichen Westbaus erbaut. Ein aufwändigerer Entwurf aus dem Jahr 1821 von Karl Friedrich Schinkel wurde verworfen. Am 27. April 1945 brannte die durch Brandgranaten getroffene Kirche mit großen Teilen des Inventars bis auf die Umfassungsmauern aus. Der Turm wurde durch Artilleriebeschuss stark beschädigt. Die Gewölbe des Mittelschiffs, des Chores und der Marienkapelle wurden zerstört. Die Chorpfeiler sind ebenfalls verloren.

Die Kirche wurde nach den schweren Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg wieder aufgebaut. Der Wiederaufbau, teilweise deutlich abweichend vom ursprünglichen Aufbau dauerte insgesamt bis zum Jahre 2011. Von der alten Ausstattung wurden der Altar des 19. Jahrhunderts mit Ausnahme des älteren Altargemäldes von Bernhard Rode, die Barockkanzel von 1709, der Orgelprospekt von 1778 und die Renaissanceemporen vernichtet. Erhalten ist ein dreiteiliger Flügelaltar aus der Zeit um 1380, der zwischen 1922 und 1925 restauriert wurde. Ebenfalls erhalten ist das Epitaph für den Stadtschreiber Andreas Nesen und Ehefrau Anna aus dem Jahr 1571. Es zeigt ein Tafelbild mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter und der ältesten Rathenower Stadtansicht über einer Inschriftkartusche; auf dem Predellenbild ist die Familie des Verstorbenen beiderseits neben dem Salvator mundi kniend dargestellt. Ein weiteres Bild aus dem 17. Jhdt. zeigt Christus vor dem Hohen Rat, Mir gefällt die Kirche sehr gut und ich wandle mehrmals drum herum und auch durch den Innenraum.

Danach betrachte ich die Kirche auch noch einmal aus der Ferne vom Alten Hafen aus. Hier treffe Martina, eine Lehrerin aus Lübeck, die mit einem vollbepackten Fahrrad unterwegs ist. So kommen wir schnell ins Gespräch. Sie ist während der letzten Ferientage von Lübeck aus auf einer Tour entlang der Havel nach Spandau und nun auf dem Weg nach Spandau zu ihrem Sohn. Sie hat auch schon während eines Sabbaticals mit ihrem Mann längere Touren durch Europa gemacht. Wir führen ein interessantes Gespräch und tauschen dann bei einem Mittagsimbiss im Restaurant „Alter Hafen“ Erfahrungen aus. Im Gegensatz zu mir, gehört sie aber auch zu den Fahrradreisenden, die mit sehr wenig Komfort auskommen und meistens im Zelt übernachten. Ich habe gegenüber solchen Menschen immer einen hohen Respekt, weil ich sehr bedauere, dass ich dies nicht mehr schaffe und auch nicht mehr will. Sie beginnt nach der Ferienzeit ihr letztes Schuljahr und freut sich auf die Zeit danach, wieder mehr Zeit für längere Fahrradtouren zu haben.

Nachdem wir uns verabschiedet haben, schlendere ich weiter zu den anderen Sehenswürdigkeiten von Rathenow. Dabei schlendere ich zunächst über den wunderschön gelegenen Weinbergfriedhof mit der Auferstehungskirche, die als Friedhofskapelle im Backsteinbau von 1914 bis 1917 errichtet wurde. Danach geht es weiter durch die weiten Parkanlagen des Weinbergs. Seit der Bundesgartenschau 2015 ist Rathenow um ein Wahrzeichen reicher: Die Weinbergbrücke, die rund 10 Millionen Euro gekostet hat und daher sehr umstritten war und noch ist, überspannt mit ihren zwei charakteristischen Bögen in elegantem Schwung nicht nur die Havel, sondern auch Hellers Loch, ein durch einen Havel-Altarm gespeistes Gewässer. Mir gefällt die Eleganz dieser Brücke und ich überquere sie während meines während meines Aufenthalts in Rathenow mehrmals täglich, weil sie auch den Innenstadtbereich mit dem Schwedendamm verbindet, wo meine Pension liegt.

Dabei komme ich auch immer an einem besonderen technischen Denkmal vorbei, auf das die Rathenower wohl besonders stolz sind. Es ist das Rolfsche Fernrohr, ein weltweit einzigartiges Brachymedial-Fernrohr. Erbaut wurde es von Ingenieur Edwin Rolf in den Jahren 1949 bis 1953 und stand bis 1994 auf seinem Privatgrundstück. Das Fernrohr ist ein technisches Denkmal, wurde von 1994 bis 1996 vollständig saniert. Es befindet sich seit dem 6. Dezember 2008 im Optikpark. Ich muss zu meiner Schande bekennen, dass ich bis heute nicht kapiert habe, was das besondere an diesem Fernrohr ist, außer dass es eine gewaltige Größe hat und leicht mit einer Raketenabschussrampe verwechselt werden könnte.

Weiter geht es über den Weinberg, dem innerstädtischen Erholungspark. Hier steht auch der 1914 eingeweihte 32 m hohe Bismarckturm, errichtet zu Ehren Otto von Bismarcks, der in der Nähe von Rathenow, in Schönhausen/Elbe. geboren wurde. Er war seit 1875 Ehrenbürger von Rathenow und wurde bereits 1847 mit den Stimmen der Rathenower Wahlmänner in den Preußischen Landtag gewählt. Der Bismarckturm wurde 1945 schwer beschädigt, in den 1960er Jahren gab es Umbauversuche zu einer Sternwarte, 2003 wurde er nach Sanierung wieder eingeweiht. Die Architektur des Turmes ist für ein Bismarck-Denkmal eher ungewöhnlich. Sieht man ihn doch sonst eher als gewaltige Steinfigur oder zumindest als burgenähnlichen Wehrturm. Die andere Architektur scheint jedoch der späten Zeit der Entstehung geschuldet zu sein, entstanden doch die meisten Bismarck-Denkmäler etwa ein Vierteljahrhundert früher.

Gestern dann ein weiterer Spaziergang durch die Stadt. Erstes Ziel ist noch einmal der Alte Hafen. Hier steht eine Bronzeskulptur von drei Männern und einem Hund. Die Schleusenspucker, wie sie genannt werden, sind ein Werk des Rathenower Bildhauers Volker Michael Roth (1944–2008). Die Skulpturen stehen an der Stadtschleuse in Rathenow und spucken von Zeit zu Zeit Wasser in den Kanal. Die Bezeichnung Schleusenspucker entstand im Volksmund für die Tagelöhner, die in den 1920er- und 1930er-Jahren am alten Stadthafen unmittelbar an der Stadtschleuse Rathenow auf anlegende Frachtkähne und damit auf eine Verdienstmöglichkeit warteten. Zwischen der Beschäftigung als Tagelöhner vertrieben sie sich die Zeit mit Gesprächen, einem Schluck aus einem Flachmann und Spuckwettbewerben von der Schleusenbrücke.

Die Figurengruppe wurde 2006 von dem Bildhauer Volker Michael Roth anlässlich der Landesgartenschau 2006 in Rathenow geschaffen. Eine der Figuren spuckt tatsächlich ab und an in den Rathenower Stadtkanal. Sie ist mit einer Wasserzuleitung zum Mund der Bronzefigur verbunden. Eine Zeitschaltmechanik, die aber anfällig und nur selten funktionieren soll, steuert das Spucken. Ich hatte Glück und bei mir funktionierte es wie man bei genauer Betrachtung der Fotos feststellen wird.

Hinter den Schleusenspuckern auf dem Schleusenplatz erhebt sich das dominante Denkmal des „Großen Kurfürsten“ Friedrich Wilhelm, der in der Schlacht von Fehrbellin 1675 die Schweden besiegte. Das Denkmal wurde von 1736 bis 1738 von Johann Georg Glume nach einem Modell von Bartholomé Damart geschaffen und gilt als das bedeutendste barocke Sandsteindenkmal im nördlichen Deutschland. Es zeigt den Kurfürsten in der Tracht eines römischen Imperators auf einem Postament, an dem Allegorien und Schlachtenreliefs angebracht sind.

Weiter geht es nun erstmals durch die Innenstadt von Rathenow, die ein modernes frisches Gesicht bekommen hat. So ist die Berliner Straße, die Hauptstraße der Stadt, mit drei Kreisverkehrsinseln unterteilt. Entlang der Straße stehen neue aber auch ältere inzwischen gut sanierte Häuser. Über manche ehemalige DDR-Architektur, wie etwa das Kulturzentrum, kann man sicher trefflich streiten, ob man sie als Hauptsehenswürdigkeit heranziehen sollte. Ganz beeindruckend dagegen das Rathaus der Stadt. Ursprünglich handelt es sich dabei um das 1912 errichtete Verwaltungsgebäude der Nitsche&Günther AG, einer Fabrik, die als erster Marktführer des neuen Industriezweigs der Produktion von Sonnenbrillen gilt. Das Gebäude strahlt heute eine schlichte aber pompöse Sachlichkeit aus. Es war aus sizilianischem Sandstein und ursprünglich in Anlehnung an die Berliner Prachtbauten gestaltet aber ursprünglich von einem auf sechs Säulen ruhendem Tympanon gekrönt. Dieser wurden im Zweiten Weltkrieg zerstört. In den Jahren 1996-1997 wurde das Gebäude rekonstruiert und dient heute als Rathaus. Betrachtet man die Achse der Berliner Straße  insgesamt, erscheint sie ein recht gelungenes städtebauliches Gesamtensemble geworden zu sein, ohne Anspruch auf ausgesprochene architektonische Bedeutung.

Schließlich muss man in Rathenow natürlich auf Johann Heinrich August Duncker (* 1767 in Rathenow; † 1843 ebenda) eingehen, dem Rathenow so vieles zu verdanken hat. Sein Denkmal besuche ich als letztes Es steht direkt gegenüber dem Hauptbahnhof und gilt auch als Hauptsehenswürdigkeit der Stadt. Duncker war ein deutscher optischer Industrieller. Duncker, Sohn eines Pfarrers, begann 1786 sein Theologiestudium in Halle. Drei Jahre später, 1789, kehrte er nach erfolgreichem Abschluss seines Studiums nach Rathenow zurück. Dort produzierte er im Pfarrhaus Mikroskope und Brillen und verkaufte diese ab etwa 1790.

Am 10. März 1801 eröffnete er zusammen mit dem Garnisonspfarrer Samuel Christoph Wagener die Königlich privilegierte optische Industrie-Anstalt, die späteren Rathenower Optische Werke (ROW). Duncker erfand die Vielschleifmaschine, die er sich auch patentieren ließ. Diese Erfindung erleichterte die Herstellung der benötigten Linsen erheblich, so dass auch die später von ihm eingestellten jugendlichen Schulabgänger ohne große körperliche Mühe in der Produktion tätig sein konnten. Die Vielschleifmaschine sowie die Entwicklung seiner Anstalt – die insbesondere auch durch seinen Sohn Eduard und seinen Enkelsohn Emil Busch vorangetrieben wurde – legten den Grundstein für die Entwicklung der Stadt Rathenow als optischen Industriestandort und gaben ihr den noch heute existierenden Ehrennamen Stadt der Optik.

1820 erkrankte Duncker an einem Nervenfieber, wahrscheinlich Typhus und lebte bis zu seinem Tod am 14. Juni 1843 in geistiger Umnachtung in Rathenow. Nach seiner Erkrankung übernahm der Sohn Eduard im Alter von 23 Jahren den väterlichen Betrieb. 1845 überließ Eduard seinem Neffen Emil Busch die Führung des Unternehmens. Beide waren gezwungen, durch strukturelle und technologische Änderungen das Unternehmen konkurrenzfähig zu halten.

Soviel also zu meinen Spaziergängen durch Rathenow. Die Abende verbringe ich auf der Terrasse des Restaurants zum Schwedendamm, zu dem meine Pension gehört, die sehr idyllisch an einem der vielen Arme der hier durchfließenden Havel liegt. Leider geht das Internet hier am Schwedendamm nur sehr unzulänglich, so dass ich mein Vorhaben, hier einige meiner Reiseberichte weiterschreiben zu können, nicht verwirklichen konnte.

 

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