18. Tag (1. Oktober 2020): Von Boizenburg nach Zarrentin

Tagesdaten: 61,49 Km

Nun wird es etwas herbstlich. Heute ist Frühnebel. Hier im Wald natürlich noch deutlicher spürbar als vielleicht anderswo. So sind die Bäume nur milchig verschwommen zu erkennen. Das Frühstück im Waldhotel ist ordentlich. Ich bekomme aber alles gut verpackt serviert. Nach dem Frühstück packe ich zusammen. Mein heutiges Ziel ist Zarrentin am Schaalsee. Das sind zwar nur ca. 60 Kilometer, aber nach Lübeck wären es über 100 Kilometer und ich bin noch gut in der Zeit. Als Zwischenziele habe ich mir noch eine kurze Rundfahrt durch Boizenburg und durch Lauenburg vorgenommen.

Von Boizenburg nach Lauenburg

Boizenburg/Elbe ist die westlichste Stadt Mecklenburgs, gelegen am Dreiländereck mit Niedersachsen und Schleswig-Holstein. Der Ort soll zu einem Mittelzentrum der Metropolregion Hamburg entwickelt wird. Meine Rundfahrt in Boizenburg beschränkt sich im Wesentlichen auf den Marktplatz. Dominant ist hier die dreischiffige, evangelische Kirche St. Marien. Die Ursprünge ihres Baus mit Baubeginn von 1217 sind romanisch im Stil, es gibt aber zum großen Teil auch gotische Bauelemente aus späterer Zeit. Das Kirchengebäude wurde im Juli 1627 während des Dreißigjährigen Krieges durch eine Explosion von hier lagernden Pulverbeständen zerstört; der Wiederaufbau wurde erst 1677 abgeschlossen. Nach dem Stadtbrand von 1709 wurden Veränderungen im Stil des Barocks vorgenommen. Die Pfarrkirche erhielt einen neuen Turm. Eine Besonderheit ist die Turmhaube: Aus dem quadratischen Grundriss des Turms formt sich eine achtseitige Laterne, von der aus man eine gute Aussicht über die Stadt und die Elbtalaue haben soll. Schade, die Kirche ist geschlossen und so kann ich die Aussicht nicht überprüfen. Wahrscheinlich wäre aber ohnehin noch zu viel Nebel über der Landschaft gelegen, um eine schöne Fernsicht zu genießen.

Im Mittelpunkt des Marktplatzes befindet sich das freistehende Boizenburger Rathaus.  Es ist ein bedeutender barocker, zweistöckiger Fachwerkbau mit Laubengang aus dem Jahre 1711, getragen von hölzernen Stützen, und dem abgewalmten Mansarddach mit einem Laternentürmchen. Nachdem ich bei der Sparkasse auf dem Marktplatz noch Geld abgehoben habe, verlasse ich Boizenburg auf dem Radweg entlang der Bundesstraße B 5. Der Weg führt auch am Elbbergmuseum vorbei. Der Name kommt auch daher, dass es sich um einen etwa 50 Meter hohen Hügelzug entlang der Elbe handelt. Das Museum ist einerseits eine Gedenkstätte für das ehemalige Außenlager Boizenburg des KZ Neuengamme. Die Häftlinge, 400 ungarische Jüdinnen, mussten in der benachbarten Rüstungsfabrik Zwangsarbeit leisten. Von diesem Außenlager gibt es nur noch ein einziges erhaltenes Gebäude. Es ist eine teilweise unterirdische Baracke, in der Lebensmittel für die Lagerküche deponiert wurden. Neben dieser Gedenkstätte gibt es hier aber auch eine Ausstellung zur ehemaligen innerdeutschen Grenze. Authentisch ist hier nur der 1972/73 errichtete Kontrollturm für das 5 Kilometer vor der Grenze errichtete Sperrgebiet, das nur von DDR-Bürgern mit besonderem Ausweis betreten werden durfte. Hier war aber auch die erste Kontrollinstanz für die Transit-Reisenden.

Ich fahre weiter entlang der B 5 und gelange nach etwa 5 Kilometern nun tatsächlich wieder über die Grenze und bin erstmals auf dieser Tour in Schleswig-Holstein. Unmittelbar hinter der Grenze liegt das hübsche Städtchen Lauenburg, das die südlichste Stadt Schleswig-Holsteins ist. Es liegt etwa 40 km südöstlich von Hamburg an der Elbe im Dreiländereck Schleswig-Holstein – Niedersachsen – Mecklenburg-Vorpommern. Lauenburg liegt am nördlichen rechten Ufer der Elbe, die hier die Grenze zwischen Schleswig-Holstein und Niedersachsen bildet. Lauenburg war bis 1689 Herzogtum, wobei das Gebiet des alten Herzogtums weitgehend mit dem heutigen Kreis Herzogtum Lauenburg übereinstimmt. Im Mittelalter war Lauenburg ein wichtiger Handelspunkt am Stecknitzkanal, der hier von der Elbe abzweigte. Die Alte Salzstraße überquerte hier in der Nähe die Elbe. Im Stadtgebiet zweigt der Elbe-Lübeck-Kanal ab, den ich dann später entlangfahren werde. Lauenburg besitzt insbesondere eine sehenswerte Altstadt, in der wie beispielsweise schon in Bleckede aber auch in Boizenburg der hölzerne Fachwerk-Skelettbau mit Ziegelsteinen ausgefüllt worden ist. Dies scheint die hier in Norddeutschland verbreitete Form des Fachwerks zu sein. Ich stelle mein Fahrrad auf einem kleine Platz im Ort ab und mache einen kurzen Spaziergang durch die Altstadt. In der Lauenburger Altstadt haben auch zahlreiche Künstler und Kunsthandwerker ihre Ateliers oder Ausstellungsräume. Nach dem Spaziergang genehmige ich mir noch einen Kaffee und Kuchen in einem geöffneten Café und dann geht es weiter.

Von Lauenburg nach Zarrentin

Nach Zarrentin sind es nun noch etwa 40 Kilometer. Bei meiner Kaffeepause in Lauenburg habe ich mir ein Quartier für heute Nacht besorgt. Meine Lieblingsunterkunft, das Fischhaus am Schaalsee, ist leider schon ausgebucht und mir inzwischen auch zu teuer. So habe ich ein Zimmer im Landhaus am Schaalsee gebucht, das bei booking.com auch einen guten Eindruck macht. Zunächst fahre ich bis Büchen am landschaftlich sehr schön gelegenen Elbe-Lübeck-Kanal entlang. Die ehemalige innerdeutsche Grenze  berührt den Kanal nicht, er lag aber nur wenige hundert Meter von der Grenze entfernt auf westdeutschem Gebiet. Bei Büchen biegt die Grenze nach Osten ab. So fahre ich nun über den Kanal durch Büchen Dorf wieder nach Osten.

Einige Kilometer hinter Büchen-Dorf führt ein Abzweig von der Kreisstraße in den Wald hinein direkt an die ehemalige innerdeutsche Grenze zu der Gedenkstelle für Michael Gartenschläger. Michael Gartenschläger wurde im August 1961 – siebzehnjährig – zusammen mit fünf Freunden nach Protesten gegen den Mauerbau und damit verbundener angeblicher Brandstiftung an der Feldscheune einer LPG festgenommen und im September wegen „staatsgefährdender Propaganda und Hetze sowie der Diversion“ nach einem dreitägigen Schauprozess im Strausberger Kulturhaus der NVA vom Bezirksgericht Frankfurt (Oder) zu einer lebenslangen Zuchthausstrafe verurteilt. 1971 wurde er nach fast zehn Jahren Haft, gesundheitlich durch Isolationshaft und mangelnde Verpflegung stark angegriffen, von der Bundesrepublik Deutschland für 40.000 DM freigekauft. Er machte sich in Hamburg als Pächter einer Tankstelle selbstständig.

Aber Michael Gartenschläger engagierte sich weiterhin für seine politische Überzeugung, beteiligte sich an Fluchthilfen für insgesamt 31 Personen und verhalf sechs Menschen persönlich zur Flucht aus der DDR in die Bundesrepublik. Um die Propaganda der DDR zu entlarven, die ihren Einsatz von Selbstschussanlagen an der innerdeutschen Grenze seit dem Aufstellen der ersten Anlagen 1970 bestritt, demontierte er am 30. März 1976 eine Selbstschussanlage vom Typ SM-70, die er dem Magazin Der Spiegel für 12.000 DM samt seiner Lebensgeschichte verkaufte. Eine weitere SM-70 demontierte er am 23. April 1976 und verkaufte sie am 26. April 1976 an die Arbeitsgemeinschaft 13. August e. V. für 3.000 DM. Am 30. April 1976 wurde Michael Gartenschläger durch ein Spezialkommando des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) beim Versuch, eine Selbstschussanlage an der Grenze abzumontieren, hier an dem Ort seiner Gedenkstelle erschossen. In einem Urteil vom 16. Februar 2005 hat der Bundesgerichtshof einen Angeklagten freigesprochen, dem vorgeworfen wurde, die Tötung Gartenschlägers organisiert und herbeigeführt zu haben; dabei wurde unter anderem auf die Feststellung der Tatsacheninstanz abgestellt, dass das Landgericht nicht habe ausschließen können, dass Gartenschläger als erster geschossen habe. 

Nach den Aktionen Gartenschlägers und den folgenden Veröffentlichungen über diese Selbstschussanlagen konnte die DDR nicht mehr leugnen, diese aufgestellt zu haben. Der internationale Druck wurde diesbezüglich auf die DDR immer größer, diese Selbstschussanlagen abzubauen. Ende der 1970er stellte eine Arbeitsgruppe des Zentralkomitees selbst fest, dass die SM-70 erhebliche Mängel hätte. Moniert wurden die hohe Quote der Fehlauslösungen, die hohen Kosten und der unzureichende Diebstahlschutz. Am 30. November 1984 demontierten Grenztruppen der DDR schließlich die letzten Splitterminen an der innerdeutschen Grenze. Auch nach dem Abbau der Selbstschussanlagen blieb die innerdeutsche Grenze selbstverständlich praktisch undurchdringlich, weil die DDR sie inzwischen aufwändig verstärkt hatte. Auch wenn man das Verhalten Michael Gartenschlägers sicher in einigen Punkten sehr ambivalent betrachten muss, hat er sicher dazu beigetragen, den Beweis für die Installation der menschenverachtenden Selbstschussanlagen erbracht zu haben und damit den Druck auf die DDR zu erhöhen, diese zu deinstallieren.

Danach fahre ich auf Kreisstraßen entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenze durch ausgedehnte Waldgebiete aber auch durch das riesige Gewerbegebiet Kuhberg und überquere kurz vor Valluhn die Autobahn A 24. Von Valluhn sind es dann nur noch 7 Kilometer bis Zarrentin am Schaalsee. Ich erreiche das Landhaus am Schaalsee kurz vor der vereinbarten Zeit gegen 15 Uhr und brauche auch nicht lange zu warten, bis ich in Empfang genommen werde. Nachdem ich mich eingerichtet habe, mache ich einen Spaziergang durch Zarrentin und am Ufer des Schaalsees entlang. Mein Abendessen nehme ich dann doch noch im Fischhaus am Schaalsee ein. Ich muss zwar auf der Terrasse sitzen, weil das Restaurant ausgebucht ist. Aber die gute Finkenwerder Scholle will ich mir nicht entgehen lassen. Es wird mit zunehmender Dunkelheit zwar schon schnell recht kühl, aber dennoch hat es sich gelohnt, hier mal wieder zu speisen.

 

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