17. Tag (22. April 2022). Vin Kortrijk nach Poperinge

Der Chef des Hauses serviert das Frühstück und es mangelt an nichts. Danach geht es los. Heute liegt wieder eine längere Strecke vor mir. Zum Abschied bittet der Hausherr noch einen Nachbarn ein Foto von uns beiden zu machen. Offensichtlich sammelt er Fotos mit seinen Gästen. Im Unterschied zu den letzten Tagen wird die Landschaft nun eben, was das Radfahren natürlich auch erleichtert. Zunächst geht es nach Wervik direkt an der Grenz zu Frankreich. Dann geht es weiter über Kruise und Zantvoorde in Richtung Ieper.

Kurz Zantvoorde erreiche ich den ersten Soldatenfriedhof, von denen es hier in der Gegend um Ieper etwa 170 gebensoll. Hier tobten während des 1. Weltkrieges vier Schlachten, die sogenannten Flandernschlachten. Die Schlachten forderten mehrere 100 Tsd. Tote auf beiden Seiten und zählten zu den bedeutendsten Schlachten an der Westfront des Ersten Weltkriegs. Insbesondere die Dritte Flandernschlacht von 1917 war, was Ausmaß und Opferzahlen betrifft, vergleichbar mit der Schlacht an der Somme und nimmt einen besonderen Platz im kulturellen Gedächtnis Großbritanniens und seiner ehemaligen Dominions ein. In den Schlachten standen dem deutschen Heer Truppen aus den vorgenannten Ländern sowie aus Frankreich, Belgien und Portugal bzw. den Kolonien gegenüber. Gekämpft wurde im sogenannten Ypernbogen und dessen Ausläufer, dem Wytschaete-Bogen, unter anderem um das Höhengelände von Messines und Wytschaete oder um den Kemmelberg. Diese strategischen Positionen sollten genutzt werden, um die jeweiligen Ziele – auf deutscher Seite die Zerstörung der Operationsbasis und die Ausschaltung der Versorgungshäfen der British Expeditionary Force (BEF), auf britischer unter anderem die Neutralisierung der deutschen U-Boot-Basen an der flämischen Küste – zu verwirklichen und damit einen entscheidenden Vorteil zu erlangen. Die Verwirklichung der Ziele beider Seiten misslang in diesen Schlachten.

Eine traurige Berühmtheit erlangte die Zweite Flandernschlacht durch den Einsatz einer neuen perfiden militärischen Waffe, nämlich Giftgas. Und es waren die Deutschen die diese Waffe als erste einsetzten: Das Giftgas, damals Chlorgas, wurde bei günstigem Wind aus Druckflaschen abgeblasen und entließ auf einem sechs Kilometer langen Abschnitt eine tödliche Giftwolke in die französischen Schützengräben. Viele der Soldaten starben an Verätzungen der Lungen, tausende erlitten schwere Verletzungen. Zwar verschaffte der Einsatz des Giftgases den angreifenden Deutschen einen militärischen Vorteil, war aber letztlich auch nicht schlachtentscheidend. In allen vier Schlachten wurden die militärischen Ziele beider Seiten nicht erreicht.

Die 170 Soldatenfriedhöfe im Gebiet um Ieper sind nur ein Teil der Erinnerungskultur, die hier noch sehr sichtbar und lebendig gepflegt wird. Auf den nächsten 130 Km, also eigentlich bis Ostende findet man ein Freilichtmuseum der Geschichte der Flandernschlachten, sei es durch die Friedhöfe, aber auch durch Denkmäler, alte Kriegsanlagen wie Bunker oder betonierte Kommandostände, Tunnel, Unterstände und Bahnanlagen, die zum Teil auch wieder rekonstruiert oder modellhaft aufgebaut wurden. Es gibt sogar einen Radweg , der sich Frontroute 14-18 nennt und der über 100 Km von Mesen im westlichen Flandern nahe der Grenz zu Frankreich bis Nieupoort an der Atlantikküste führt.

Es macht einen schon sehr nachdenklich, wenn man durch diese Landschaft fährt, das hier sieht und daran denkt, dass wir so etwas durch den Angriff Russlands auf die Ukraine heute vor fast zwei Monaten in Europa wieder erleben müssen, obwohl wir es bis vor einem Jahr wohl überwiegend für unmöglich gehalten hätten, dass sich so etwas auf europäischem Boden wiederholen könnte. Es deutet sich ja bereits an, dass es inzwischen auch in der Ukraine vergleichbare Stellungsschlachten gibt, die viele Menschenleben fordern aber keine Gewinne bringen.

Natürlich wurden die Städte und Dörfer hier um Ieper besonders hart durch die Flandernschlachten betroffen. Als ich schließlich nach Ieper komme, merkt man auch, dass diese Stadt inzwischen vom Gedenktourismus lebt. Die Stadt wurde während der Flandernschlachten fast vollständig zerstört. Nach dem Krieg wurde die Stadt (trotz des Wunsches Winston Churchills, die Ruinen als Denkmal bestehen zu lassen) wieder aufgebaut. Die wichtigsten Bauten, wie die Stadtkirche und die Tuchhalle, wurden originalgetreu rekonstruiert, die meisten anderen Häuser aber ganz unabhängig von den Vorgängerbauten frei historisierend neu errichtet. Historisches Bewusstsein und Erinnerungen haben seitdem viel Platz in der Geschichtsschreibung und Kultur der Stadt.

In Ieper verweile ich etwa zwei Stunden. Von Ieper verlasse ich dann für heute das Schlachtgebiet des 1. Weltkriegs und radle über Kemmel, Loker und Westouter nach Poperinge. Die Stadt ist für mich nur eine Übernachtungsstation. Sie ist zwar ganz ansehnlich, insbesondere die katholische St.-Johannes-Kirche (niederländisch Sint-Janskerk), aber verfügt sonst nicht über viele Sehenswürdigkeiten. Herausragende Kultureinrichtung ist lediglich das National Hopfenmuseum.

Tagesstrecke: 77 Km

 

Ieper

Ich mache eine Rundgang durch die Stadt. Ziel sind insbesondere das sogenannte Menentor, was zwar ein Tor ist, aber eigentlich als Denkmal errichtet wurde. Dann sind die eindrucksvollen Tuchhallen und die St.-Martins-Kathedrale einen Besuch wert.

 

Poperinge

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