Heute also Ruse. Nach dem Frühstück mache ich mich auf. Das Wetter ist zwar noch etwas trüb, die Prognosen versprechen allerdings eine zunehmende Aufheiterung. Mein erster Weg führt mich zur Touristeninformation. Von außen sieht es aus als wäre geschlossen, kein Licht und kein Mensch ist drinnen zu sehen. Ich versuche es trotzdem an der Tür und sie lässt sich öffnen. Als ich hineinkomme sehe ich immer noch niemanden, bis ich hinter den Tresen schaue, wo ein junger Mann sitzt, der sich aber offensichtlich mehr für seinen Computer als für die Kundschaft interessiert. Ich frage ihn, ob er englisch spreche und er verneint. Ich frage ihn, ob er deutsch spricht und er verneint wieder. Als ich ihn etwas irritiert anschaue sagt er mir etwas, dass er natürlich englisch spreche. Sorry, dass ich gefragt habe. Dann erläutere ich ihm mein Begehr und er reißt mir einen Stadtplan von dem inzwischen obligatorischen Block. Auf meine Frage, ob er noch irgendetwas zu den Hauptsehenswürdigkeiten von Ruse habe wird das wieder verneint. Da fällt mein Blick auf eine kleine Broschüre „Ruse for Guests“. Na bitte, besser als gar nichts und großzügig erlaubt er mir, den Guide mitzunehmen.

Als erstes mache ich mich auf den Weg zur Donau. Schon hier sieht man, dass in Ruse viel gebaut und restauriert wird. Es ist auch notwendig, wenn man die vielen kleinen Schmuckstücke, die man hinter den gebrochenen und abgebröckelten Fassaden erkennen oder zumindest erahnen kann, noch retten will. Es wäre Ruse zu wünschen, das das gelingt. Auch die inzwischen schon neu angelegte Donaupromenade könnte durch eine etwas verbesserte Infrastruktur durchaus profitieren. Schließlich gehe ich zurück ins Zentrum und schlendere erst einmal durch die Fußgängerzone Richtung Osten. Ruse hat eine inzwischen durchaus sehr ansprechende etwa 2 bis 3 Kilometer lange Fußgängerzone, die sich vom Battenbergplatz im Westen über den Svobodaplatz bis zum Alyosha Memorial erstreckt. Hier ist ein lebhaftes Treiben und es befinden sich viele Geschäfte, Cafés und Bars hier. Die Bulgaren scheinen durchaus gerne in Cafés und Bars zu sitzen. Heute ist Ruse übrigens mit etwa 160 Tsd. Einwohnern die fünftgrößte Stadt Bulgariens. Russe ist auch ein Industrie-, Handels und Verkehrsknotenpunkt. So besitzt Russe den größten Donauhafen Bulgariens, mit den Nationalstraßen 5 (E 85), 3 und 21 ist Russe auch ein wichtiger Straßenknotenpunkt zwischen Sofia und Bukarest und ein eben solcher Eisenbahnknotenpunkt. So wurde auch die erste Eisenbahnstrecke in Bulgarien zwischen Russe und dem an der Schwarzmeerküste gelegenen Varna eröffnet. Als Industriestandort werden in Russe landwirtschaftliche Produkte verarbeitet. Weitere Industriezweige sind Maschinenbau, Flussschiffbau sowie Textil- und Ledererzeugung. Außerdem hat der Automobilzulieferer Witte Automotive in Russe einen wichtigen Standort.

Auf meinem Weg erfreue ich mich wieder an dem vielen Grün in dieser Stadt. So sind viele Straßen mit Bäumen bepflanzt, meistens Kastanien oder Linden, was für die Anwohner vermutlich den Nachteil hat, dass ihre Wohnungen im Sommer recht dunkel sind. Aber auch große Parkanlagen wie der Mladehzki Park, der sich hinter dem Alyosha Memorial, dem Denkmal für die Rote Armee, erstreckt und andere geben der Stadt ein grünes und durch die vielen Blumenrabatten buntes Gepräge. Auf dem Rückweg vom Alyosha Memorial führt mich mein Weg zunächst zur größten Gedenkstätte Russes, zu dem 1978 eingeweihten Pantheon der Kämpfer der Wiedergeburt, dessen große vergoldete Kuppel weithin sichtbar ist. In dem Monument sollen 453 namhafte Freiheitskämpfer bestattet sein. Es wurde aus Anlass des 100. Jahrestages der Befreiung Bulgariens von der türkischen Herrschaft errichtet. Das Monument steht in einem Park, der auf dem früheren Friedhof von Russe angelegt wurde.

Ganz in der Nähe und damit widme ich mich wieder den profaneren Dingen, soll der laut bikeline gut sortierte Fahrradladen sein. Also mache ich mich auf den Weg dahin und muss wirklich Respekt zollen. Ich bekomme sogar die für mein bike notwendige Fahrradkette. Der Laden kann sich durchaus mit vielen bei uns messen. Nach meinen bisherigen Erfahrungen scheint er mir auf dem Balkan aber eher eine sehr seltene Ausnahme zu sein. Ob mich die Tatsache, dass ich jetzt eine Ersatzfahrradkette bei mir habe, tatsächlich beruhigt, weiß ich noch nicht, denn sofort fallen mir mehrere Dinge ein, die auch kaputt gehen könnten und für die ich keinen Ersatz habe. Mit diesen Gedanken kehre ich dann auf der Aleksandrovska, der Fußgängerzone, in einer Bar ein, um mich zum Lunch niederzulassen. Inzwischen ist es nach 12 Uhr und vom vielen Laufen bin ich inzwischen etwas kreuzzlahm.

Leider ist kein Tisch mehr frei und so steuere ich einen an, an dem nur ein junger Mann sitzt und frage ihn auf Englisch, ob ich Platz nehmen dürfe. Er fragt, ob ich alleine sei und als ich dies bejahe erklärt er sich einverstanden. Als ich mich setzte fragt er mich zwar mit Akzent aber deutlich schwäbischem Dialekt: „Bischt Du Deutscher?“ Als ich das bejahe, ergibt sich natürlich sofort eine Gesprächsbasis. Denis, so heißt der junge Mann, hat acht Jahre in Deutschland gelebt und irgendwie im Satellitenschüsselbau gearbeitet. Seine Eltern waren seinerzeit mit ihm als 18-jährigem nach Deutschland gegangen. Nun wollte er aber wieder zurück in seine Heimat und ist vor kurzem erst zurückgekommen, um hier an der Universität von Ruse Sozialpädagogik zu studieren. Inzwischen hat sich auch ein Freund von ihm zu uns gesellt, der allerdings kein deutsch spricht, aber sonst auch sehr freundlich ist. Auf meine Frage, welche Perspektiven man in Bulgarien denn mit Sozialpädagogik habe, brachte Denis ein breites Spektrum an Möglichkeiten vom Lehrer, über Tätigkeiten in Kindereinrichtungen bis zur Jugendbetreuung bei der Polizei. Er sehe da kein Problem für sich mit Sozialpädagogik einen Beruf zu bekommen. Sonst hätte er das Studium gar nicht begonnen.

Wir kommen auch auf die wirtschaftlichen Probleme Bulgariens, die Armut und die Arbeitslosigkeit zu sprechen. Denis bringt mir hier eine für mich völlig neue Sichtweise nahe. Man sieht das in Bulgarien wohl alles viel gelassener als bei uns. Wer arbeiten wolle, finde auch in Bulgarien Arbeit. Ich bin erst einmal erstaunt wie despektierlich Denis über seine Landsleute spricht, bis ich dann merke, dass er es ganz anders gemeint hat. Er meint hier die unterschiedliche Lebenseinstellung und sagt, dass viel mehr Menschen in Bulgarien als in Deutschland eigene Häuser besäßen und dadurch schon mal die Miete einsparen. Die zum Leben wichtigsten Dinge würden sie dann rund ums Haus erwirtschaften, beispielsweise durch Obst- und Gemüseanbau und durch Kleintierzucht. Dann brauche man zum Leben nicht mehr viel und wenn man Geld brauche gehe man eben für eine gewisse Zeit arbeiten. Man sei auch etwas anspruchsloser als in Deutschland. Viele Bulgaren würden zwar meinen, die Deutschen schwimmen im Reichtum. Aber was habe man denn tatsächlich von den höheren Einkommen. Man müsse meist deutlich mehr als 500 € Miete zahlen, dann kämen noch mindestens 600 € Lebenshaltungskosten dazu. Da müsse man schon sehr viel mehr verdienen, um den Lebensstandard der Bulgaren tatsächlich zu übersteigen. Mich überzeugt das zwar alles nicht so ganz, aber ich finde es eine bemerkenswerte Position. Es ist mal wieder ein schönes Beispiel, dass man die eigenen Maßstäbe nicht zum Maßstab aller Dinge machen sollte. Einen Punkt kann ich mir aber tatsächlich kaum vorstellen und muss es noch einmal recherchieren, nämlich, dass die Bulgaren tatsächlich mehr Wohneigentum haben sollten als die Deutschen.

So ist es ein sehr spannendes Gespräch, das wir führen. Als es ans bezahlen geht, besteht Denis darauf, meine Rechnung übernehmen und weist meinen Protest energisch zurück. Er begleitet mich dann noch auf meiner Tour durch Ruse, weil er nichts weiter vorhabe und sich auch mal wieder etwas intensiver mit Ruse beschäftigen müsse. Mein schließlicher Versuch ihn wenigstens noch zu Kaffee und Kuchen einzuladen scheitert dann auch, weil er auch hier darauf besteht mich als deutschen Gast in Ruse, seiner Heimatstadt, einzuladen. Danach trennen wir uns. Ich mache noch einen kurzen Besuch in der Heiligen-Dreifaltigkeits-Kirche, die 1632 eingeweiht wurde und als die älteste Kirche der Stadt gilt. Sie ist insofern schon eindrucksvoll als sie sozusagen im Souterrain liegt. Man geht zu ihr keine Treppen hinauf, sondern hinunter. Eindrucksvoll ist sie auch wegen der gut erhaltenen Wandgemälde und Ikonen. Meine letzte Besichtigung führt mich dann zur Universität von Ruse, die 1954 gegründet und den Namen des bulgarischen Revolutionärs und Freiheitskämpfers Angel Kantschews trägt. Angel Kantschew ist in Ruse überall präsent. Er starb 1872 in Ruse durch Suizid als er bei dem Versuch, die osmanisch-rumänische Grenze bei Ruse zu überqueren, von der osmanischen Grenzpolizei entdeckt wurde.

Damit endet mein sehr interessanter Tag in Ruse. Ich gönne mir noch einmal das hervorragende Abendessen in meinem Hotel, muss aber akzeptieren, dass es auch Zeit kostet, sich in Bulgarien kulinarisch verwöhnen zu lassen. Morgen geht es nun wieder auf die Piste.

Ein Kommentar

  • Steffen Haubold sagt:

    Hallo Herr Kohl,

    ein schöner Bericht. Die Situation in der Touristeninfo habe ich mit einem Schmunzeln gelesen: Könnte es sein, dass der junge Mann mit dem Kopf geschüttelt – und damit Ihre Fragen bejaht hat? In Bulgarien ist es genau anders herum, als bei uns. Das ist erst mal gewöhnungsbedürftig…
    Ich wünsche Innen noch viele schöne Erlebnisse. Freundliche Grüsse, Steffen Haubold

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