Es gibt ein schönes Frühstücksbuffet in der Villa Bohema, so dass der Tag gut beginnt. Die Regenphase scheint nun auch erst einmal vorbei zu sein, die Temperaturen sollen kontinuierlich wieder steigen und im Laufe des Tages brechen auch die Wolken wieder etwas auf. Statt bedeckt wird es jetzt wolkig. Nach dem Frühstück bitte ich an der Rezeption um zwei Putzlappen, um mein Fahrrad vom gröbsten Dreck zu reinigen und auch die Kette zu ölen. Sie hat es nötig. Danach verstaue ich mein Gepäck und los geht es.

Planmäßig ist die Strecke heute unter 40 Kilometer. Ich mache aber noch einen Abstecher entlang der Weichsel etwas zurück in der Hoffnung, doch noch einen schöneren Blick auf die Burgruine Janowiec zu bekommen. So fahre ich etwa 5 Kilometer weichselaufwärts auf einem unbefestigten Weg bis zu den sehr ursprünglichen Dörfern Albrechtowka und Miecmierz. Von hier kann ich tatsächlich noch einmal auf die Burgruine Janowiec blicken. Aber der Blick ist auch nicht besser als gestern. Wie ich es auch erwartet habe, fährt auch die Fähre nach Janowiec zur Zeit wegen des Hochwassers nicht. So kehre ich wieder zurück und starte die Strecke für den heutigen Tag. Es ist auch hier keine besonders interessante Strecke. Auch hier geht es wieder entlang von Wiesen, Feldern und Auen oder durch Wälder. Zunächst geht es aber etwa 5 Kilometer entlang der Uferpromenade von Kazimierz Dolny. Dann wird die Strecke etwas unübersichtlich und ich muss einen kleinen Umweg fahren, weil mich mein Navi durch einen Bach ohne Brücke leiten will. Nach kurzer Zeit gelange ich aber auf einen gut ausgebauten Radweg entlang des Weichseldeiches. Der Deich verhindert allerdings leider meist den Blick auf die Weichsel. Der Radweg führt mich etwa 15 Kilometer durch die landwirtschaftlich genutzte Auenlandschaft bis nach Pulawy. Hier zwischen Kazimierz Dolny und Pulawy ist auch der östlichste Punkt meiner Tour entlang der Weichsel. Von hier sind es lediglich ca. 50 Kilometer nach Lublin und etwa 150 Kilometer bis zur ukrainischen Grenze. Puławy ist eine Mittelstadt mit etwa 47 Tsd. Einwohnern in der Wojewodschaft Lublin. Mitte der 1960er Jahre wurde eine große Stickstoffdüngerfabrik im Ort errichtet. Damit wuchsen die Bedeutung und die Einwohnerzahl des Ortes stark an. Hier erlebt man jetzt doch hautnah den nationalen Konservativismus  in Polen. So hat der Gemeinderat die Stadt 2020 offiziell zur LGBT-freien Zone („Strefę wolną od ideologii LGBT“ – LGBT-Ideologie-Freizone) erklärt hatte. Nach dieser Maßnahme löste niederländischen Stadt Nieuwegein ihre Städtepartnerschaft mit Pulawy auf und auch die französische Partnerstadt Douai setzte ihre Zusammenarbeit aus.

Schauen wir daher lieber in die doch eher ruhmvolle Geschichte des Ortes zurück. So fahre ich auch gleich in den berühmten Park des Schlosses der Fürsten Czartoryski. Die Errichtung eines Palasts mit dem umgebenden Park begann 1671 für eine polnische Adelsfamilie. 1782 wurde die Siedlung Eigentum von Adam Kazimierz Czartoryski (1734–1823) und stieg bald zu einem wichtigen Teil des politischen und kulturellen Lebens in Polen auf. 1795 bei der Dritten Teilung Polens fiel der Ort an Preußen. 1807 wurde der Ort Teil des Herzogtums Warschau und 1815 Teil Kongresspolens. Nach dem Novemberaufstand kam Puławy 1831 unter russische Herrschaft. Adam Kazimierz Czartoryski wurde nach dem Tod König Augusts III. als Kandidat für den polnischen Thron aufgestellt, musste aber Stanislaus Poniatowski weichen, der massiv von Russland unterstützt wurde.  Er trat nach der Ersten Teilung Polens wegen seiner in Galizien gelegenen Besitzungen in österreichische Dienste. Kaiser Joseph II. ernannte ihn zum Feldmarschall. Er hatte reichlichem Anteil an den Bestrebungen des polnischen Adels, dem Vaterland die Unabhängigkeit wiederzubringen, versuchte aber vergeblich den Kurfürsten von Sachsen zur Annahme der Krone Polens und den österreichischen Kaiser zur Vermittlung gegenüber den eigennützigen Absichten Russlands zu bewegen.

Eine in vieler Hinsicht bedeutendere Rolle für Pulawy spielte die Ehefrau des Fürsten, Izabela Czartoryska (1746-1835), die als Schriftstellerin, Philanthropin, Mäzenin, Salonnière und Kunstsammlerin wirkte und die Sammlungen des späteren Czartoryski-Museums, des ersten polnischen Nationalmuseums, begründete. Sie engagierte sich als Patriotin im Unabhängigkeitsstreben Polens gegenüber Russland und ging nach dem gescheiterten Novemberaufstand von 1830 mit ihrer Familie ins Exil nach Galizien. Auch wenn die Familie vorwiegend in Warschau lebte, machte die Fürstin zusammen mit ihrem Mann den Sommersitz in Puławy ab 1775 zu einem Treffpunkt für Intellektuelle und Politiker. Sie entdeckte das Talent des jungen Malers Aleksander Orłowski und finanzierte ihn. Sie verehrte William Shakespeare und trug eine der größten Privatbibliotheken Polens zusammen. Sie verfasste selbst zahlreiche unveröffentlichte Werke wie Gedichte, Erinnerungen und Reisenotizen, aber auch einige mehrfach aufgelegte Bücher. 1796 ließ sie das ebenfalls zerstörte Schloss in Puławy wieder aufbauen und erweiterte es um einen englischen Landschaftspark, den Garten von Puławy, wo sie 1801 den Tempel der Sibylle als Tempel der Erinnerung an die historische Größe Polens einrichtete, das nunmehr seine Selbständigkeit verloren hatte.

Während des Novemberaufstandes von 1830 machte die Fürstin das Schloss Puławy zu einem Hospital für Verwundete und einem Zufluchtsort für die flüchtenden Patrioten. Nach dem unglücklichen Ausgang der Revolution beschlagnahmten die Russen den Besitz und richteten im Schloss ein Erziehungsheim ein. Die Fürstin hatte Puławy fluchtartig verlassen müssen und zog sich zu ihrer Tochter Maria Anna von Württemberg auf das Schloss Wysock im habsburgisch regierten Galizien zurück, wo sie am 17. Juni 1835 im Alter von 89 Jahren starb. Während ich einen Spaziergang durch den Park mache, denke ich über die doch zum Teil verwirrenden Verhältnisse im polnischen Adel vor und nach den polnischen Teilungen Ende des 18 Jhdt. nach. Alle waren sie Patrioten, die die Unabhängigkeit Polens wiederherstellen wollten. Das hinderte allerdings eine Fürstin Izabela Czartoryska nicht, ein langjähriges Verhältnis mit dem russischen Botschafter Nikolai Wassiljewitsch Repnin zu unterhalten, der eine Schlüsselrolle beim Untergang der Staatlichkeit von Polen-Litauen im 18. Jahrhundert spielte, obwohl sie und ihr Mann in scharfer Opposition zur politischen Annäherung des polnischen Königs Stanislaus II. August Poniatowski an Russland standen. Letzterer war auch eine glühender Verfechter der Unabhängigkeit Polens, was ihn aber nicht hinderte eine mehrjährige intime Beziehung zur Kaiserin Katharina von Russland zu unterhalten. Beide zeigen einmal mehr, dass der polnische Adel in seinen oft taktischen und teilwiese strategischen Überlegungen nicht immer eine glückliche Hand bewies. Schon allein, dass man immer wieder auf den Gedanken verfiel, ausländischen Würdenträgern die polnische Krone anzudienen, erscheint aus heutiger Sicht geradezu grotesk.

Nach dem Besuch im Schlosspark von Pulawy fahre ich weiter. Zunächst geht es kreuz und quer durch das belebte Pulawy, eine Stadt, die ich eher als gesichtslos empfinde. Danach geht es weiter auf der vielbefahrenen Woiwodschaftstraße 801 Straße, was die Tour nicht gerade angenehm macht. Die Straße führt von Pulawy bis nach Warschau und wird mich wohl in den nächsten Tagen begleiten. Einen kurzen Stopp lege ich noch in dem Dorf Golab (Taube) ein, wo eine sehenswerte Renaissancekirche und ein sogenanntes Loreto-Haus zu sehen sind. Der Kirchenkomplex (Kirche, Loreto-Haus und Kirchenzaun) in Gołębi ist Teil des Trends, der als „Lubliner Renaissance“ bezeichnet wird und die Merkmale der Renaissance, des Manierismus und des Barock mit der lokalen Stilistik verbindet. Die Gebäude in Gołębi haben einen besonderen Wert aufgrund ihres ideologischen und künstlerischen Ausdrucks und der Person des Gründers, Kanzler Jerzy Ossoliński.

Dann geht es die letzten paar Kilometer weiter auf der 801 nach Deblin. Zu Deblin gibt es nicht viel zu erzählen, außer dass es im 19. Jhdt. nach dem damaligen russischen Statthalter Polens Iwan Fjodorowitsch Paskewitsch in Iwangorod umbenannt wurde. 1838 begann der Bau einer Festung, die einen Übergang über die Weichsel sichern sollte. Die Festung Iwangorod soll eine der stärksten Festungen des russischen Kaiserreiches gewesen sein. An der zugehörigen Zitadelle lege ich einen kurzen Stopp ein. Daneben gibt es ein weiteres polnisches Ehrenmal. Meine heutige Unterkunft ist ein Gasthaus aber wohl eher eine Fernfahrerunterkunft. Sie ist einfach aber praktisch und es ist auch geheizt. Angeschlossen ist ein kleines Restaurant, was wohl primär für die Hausgäste offen steht. Da ich kein Interesse habe, die Stadt näher kennenzulernen, nehme ich hier dann auch mein Abendessen ein.

Tagesstrecke: 50,45 Km

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