Das Wetter ist sehr schön. Blauer Himmel, gelegentlich mal kleinere Wolken am Himmel, also viel Sonne. Die Grundtemperaturen gehen zwar nach wie vor nicht über 12 Grad, aber wenn die Sonne scheint, empfindet man es deutlich wärmer. Das Frühstück im Parkova Hotel ist reichlich und so beginnt der Tag für mich schon mal sehr gut.
Die Strecke hat auch heute wenige Höhepunkte, eher sogar einen Tiefpunkt, aber trotz des schönen Wetters ist die Strecke anspruchsvoll, wie man an den Höhenmetern schon erkennen kann. Die Fahrt geht heute durch die sogenannte Rominter Heide. Die Rominter Heide ist ein 210 km² großes Hügel-, Wald- und Heidegebiet das zum größeren Teil im Südosten der russischen Oblast Kaliningrad sowie zu gut einem Drittel eben hier in der polnischen Woiwodschaft Ermland-Masuren liegt. Es geht immer wieder auf und ab. Es sind zwar weder lange noch hohe Steigungen, aber auch kleinere Steigungen und permanente Auf- und Abfahrten kosten Kraft.
Dazu kommen die sehr unterschiedlich Wegequalitäten. Allerdings muss ich inzwischen sagen, dass das polnische Straßenwesen vielleicht unter ökologischen Gesichtspunkten nicht ganz falsch ist. Es ist ja nicht so, dass sie nur die Fahrradwege ungepflastert lassen, sondern auch viele Nebenstraßen, die Höfe, Weiler oder auch Dörfer miteinander verbinden. Dabei kann man nicht einfach von Schotterstraßen sprechen, denn zum großen Teil ist der Schotter mit Sand vermischt und fest planiert. Ob sich in dem Sand auch noch irgendein Bindemittel findet, weiß ich nicht. Aber ich könnte mir schon vorstellen, dass eine solche Methode bei nicht so stark befahrenen Straßen ökologisch sinnvoller ist als die Versiegelung des Bodens durch Asphalt. Freilich sind diese Straßen anfälliger gegen Witterungseinflüsse als der Asphalt. Aber das müsste man eben bei der Nachbetreuung dieser Straßen berücksichtigen und planen. Diese Nachbetreuung vermisst man allerdings gelegentlich.
Zurück zur Rominter Heide. Sie war früher ein beliebtes Jagdrevier und Kaiser Wilhelm II. ließ sich hier, allerdings im heutigen russischen Teil, ein Jagdschloss errichten. Der spöttisch Reichsjägermeister genannte Hermann Göring erzwang nach dem Tod des Kaisers 1941 den Verkauf an den preußischen Staat und ergänzte das Anwesen durch den etwa zwei Kilometer entfernten Reichsjägerhof Rominten. Die geplante Zerstörung des Gutes am Ende des Krieges unterblieb, wurde aber im Laufe der Jahre abgetragen.
Erstes Highlight des Tages sind dann die Stanczki-Viadukte. Sie liegen auf meinem Weg. Bei Stańczyki (Staatshausen) überspannen zwei parallele Eisenbahnbrücken ein breites Tal, in dessen Mitte der kleine Fluss Błędzianka (Blinde) fließt. Die südliche Brücke wurde 1912 bis 1914 errichtet, die nördliche 1918. Die Planung für das einem römisches Aquädukt ähnelnde Bauwerk stammt aus dem Jahr 1908. Das hieß freilich noch nicht, dass hier dann bereits Züge fuhren. Erst während des Ersten Weltkrieges (1916) entstand dann ein Projekt zur Errichtung einer dritten Magistrale von Westpreußen über Ostpreußen nach Litauen. Im Frühjahr 1917 begannen die Bauarbeiten. Bis Ende des Krieges wurden die Arbeiten nicht beendet.
Nach Kriegsende hatte das sehr ehrgeizige Projekt eigentlich seinen Sinn verloren, da die Polen und die Litauer aus verständlichen Gründen eine Abgrenzungspolitik gegen Deutschland führten. In den 1920er Jahren wurde beschlossen, die Eisenbahnlinie eingleisig fertigzustellen. Die Einweihung der von Goldap über Szittkehmen nach Gumbinnen führenden Eisenbahnstrecke fand am 1. Oktober 1927 statt, sie verlief allerdings nur über die südliche Brücke.
Aus nicht bekannten Gründen wurde nach einigen Jahren das Gleis auf die nördliche Brücke verlegt. Das Personenaufkommen war relativ groß, weil das Gebiet ein beliebtes Ausflugsziel für die Bewohner von Goldap, Gumbinnen und anderen Städten war. Im Sommer waren es vor allem Pilzsammler und Angler, im Winter Skiläufer. Nach 1941 erhöhte sich die Bedeutung der Strecke noch mehr, um Baumaterial für die Wolfsschanze zu befördern. Dieses wurde aus der Gegend von Bachanowo über diese Strecke nach Görlitz (heute Gierloz, nicht zu verwechseln mit dem deutschen Görlitz) in unmittelbarer Nähe zum sogenannten Führerhauptquartier Wolfsschanze transportiert. 1945 wurde die gesamte Strecke von der Sowjetunion demontiert.
Die Viadukte, die unabhängig von der Demontage der Schienen erhalten blieben, erfreuen sich heute einer großen touristischen Beliebtheit, was ich auch daran erkennen kann, dass man Eintritt zahlen muss, um auf die Viadukte zu kommen. Das sie auch nicht nur heute relativ gut besucht werden, erkennt man auch daran, dass es mehrere Imbiss- und Verkaufsstände gibt. Auch ich drehe auf den beiden Viadukten zwei Runden und erfreue mich an dem Blick in die tatsächlich wunderschöne Landschaft. Ein wenig fühlt man sich hier in die Mittelgebirge versetzt, obwohl keiner der Hügel höher als 300 Meter ist.
Gegenüber der Viadukte ist ein sehr moderner Aussichtsturm, von dem man eine phantastische Aussicht auf diesen pittoresken Landstrich hat, mit seinen verteilten Höfen an den Hängen, seinen Wiesen und Feldern, wobei hier doch wieder die Viehzucht überwiegt. Ich halte mich hier länger auf, als ich das gedacht hätte, aber man kann sich wirklich in diese Landschaft verlieben.
Dann geht es aber doch weiter zu meinem letzten heutigen Ziel, das ich ungerne Highlight nennen würde. Es ist das Dreiländereck zwischen Polen, Litauen und Russland. Ich kann nicht verhehlen, dass ich während meiner gesamten Tour schon gelegentlich etwas beklemmende Gefühle habe, wie nahe ich hier zum Teil an den sicher zur Zeit konfliktgeladensten Grenzen Europas entlangfahre und noch entlangfahren werde. Schon von Weiten sieht man nun einen recht abweisenden Zaun, der nicht mehr nur aus Maschen besteht, sondern aus nicht wohlmeinendem Stacheldraht (es gibt dafür auch einen Fachbegriff, den ich aber leider wieder vergessen).
Ich stehe als recht fassungslos vor dem Denkmalsstein des Dreiländerecks, von dem ich Fotos gesehen habe, wie Touristen auf dem Stein posieren. Nun ist er mit diesem üblen Zaun versperrt, der nicht nur abwehren will, sondern der auch schwerste Verletzungen verursachen kann, wenn jemand versuchen sollte, ihn zu überwinden. Nicht, dass mich diese Änderung überrascht hätte, ich wusste ja bereits, dass Litauen und Polen einen massiven Grenzzaun zu Russland bauen wollen. Ein Grenzzaun, der in der derzeitigen Situation ,in die uns Russland hineingebracht hat, auch sicher verständlich ist. Es dokumentiert aber vor allem das Fiasko, in dem sich Europa befindet.
Nachdem ich hier einige Zeit recht nachdenklich verweilt habe, mache ich mich auf den Weg zu meinem vier Kilometer entfernten Ort meines heutigen Nachtdomizils in Wizajny. Hierbei überfahre ich noch einmal eine Grenze, nämlich die zwischen den Woiwodschaften Ermland- Masuren und Podlachien. Ich verlasse damit das frühere Ostpreußen, in dem bis 1945 überwiegend Deutsche gelebt haben und komme in Podlachien in ein Gebiet, wo Deutschland im 2. Weltkrieg die schlimmsten Verbrechen überhaupt begangen hat. Dazu werde ich in den nächsten Tagen sicher mehr berichten.
Mein heutiges Quartier ist ein Privatquartier sehr idyllisch gelegen, am Wizajny-See. Ich werde dort freundlich empfangen von der etwa 16- bis 17-jährigen Tochter des Hauses, die in der Schule englisch lernt und es nun zum ersten Mal außerhalb der Schule ausprobieren muss. Sie macht das hervorragend, ist aber sehr aufgeregt. Aber wir bekommen das hin. Ich habe ein Zimmer in einem auch auf dem Hof stehenden älteren Haus und teile mir nun mit dem Großvater Küche und Bad. Das funktioniert für mich hervorragend, weil sich der Großvater, der sicher einige Jahre jünger ist als ich, kaum sehen lässt und wir uns ohnehin nicht verständigen könnten.
Was mich betrübt, das Restaurant des Ortes hat schon seit längerer Zeit geschlossen. Das hatte ich zwar schon selbst herausgefunden, dennoch hätte ich mich gefreut, wenn es sich als Irrtum herausgestellt hätte. Was mich mehr betrübt ist, dass es auch kein Frühstück geben soll, obwohl das eigentlich etwas anders annonciert war. Nun ja, ich muss ohnehin nun in den Supermarkt, um mich für heute Abend zu versorgen, da kann ich auch für das Frühstück einkaufen.
Tagesstrecke: 60,75 Km; 11,67 Km/h; 726 Hm