Ich habe gut geschlafen und das Frühstück im Schlossrestaurant ist ordentlich. Nach dem Frühstück mache ich noch einen Spaziergang über das Schlossgelände. Das Wetter bleibt leider schlecht. Es soll zwar nicht mehr so viel regnen, aber es ist auch ziemlich kalt geworden. Dies soll nun auch einige Tage so bleiben. Die Temperaturen steigen nicht mehr über 7 Grad. Gottseidank sind die nächsten Etappen etwas kürzer. Heute liegen nur knapp 30 Kilometer vor mir. Nachdem ich wieder mein Gepäck auf dem Fahrrad verstaut habe, fahre ich recht lustlos in den trüben Tag. Die Weichsel sehe ich heute bis zu meinem Ziel Sandomierz nicht mehr. Das ist die Folge, dass es keinen Weichselradweg mehr gibt und man auch nicht einfach auf dem Deich entlangfahren kann.
Die Fahrt ist relativ trist und ich kann mich bei dem Wetter auch an der Landschaft nicht erfreuen. Einzige Abwechslung: ich komme seit Krakau zum ersten Mal wieder durch eine Stadt. Es ist Tarnobrzek, etwa 15 Kilometer nordöstlich meines gestrigen Übernachtungsortes Baranowie Sandomierski. Auch dieser Stadt ist durch die deutsche Besatzung 1939 großes Leid zugefügt worden. Nach dem deutschen Einmarsch 1939 wurden die jüdischen Bürger, die zu Anfang des 20. Jahrhunderts etwa 80 % der Bevölkerung der Stadt Tarnobrzeg ausgemacht hatten, systematisch verfolgt. Nach Erschießungen und Einweisungen in Arbeitslager und Ghettos wurden fast alle Juden bis 1944 in die Vernichtungslager deportiert. Die bis zum 16. Jahrhundert zurück belegbare jüdische Gemeinde Tarnobrzeg-Dzików wurde damit ausgelöscht. 1944 gab es um die Stadt heftige Gefechte; am 5. August wurde sie von der Roten Armee eingenommen. Nach 1950 erlebte die Stadt dann einen wirtschaftlichen Aufschwung durch die Entdeckung von Schwefelvorkommen im Jahre 1953, dessen Abbau zu einem deutlichen Wachstum der Stadt führte. 1960 wurde ein Schwefelsäure-Kombinat errichtet, die Grube Machów. Noch im 20. Jahrhundert wurde die Ausbeutung der Lagerstätte allerdings wieder aufgegeben und die Grube 1994 in einen See umgewandelt. Dieser See ist heute ein wohl beliebtes Naherholungsgebiet.
Tarnobrzeg zieht sich bei einer Durchfahrt sehr in die Länge, aber immerhin gibt es einen straßenbegleitenden Radweg. Dies ist gut so, denn an diesem Samstag sind die Straßen sehr befahren. Es fängt auch wieder an zu regnen. Da ich schon gegen Mittag in Sandomierz sein werde, frage ich in der gebuchten Unterkunft Rezydencja Bakamus in Sandomierz an, ob ich schon vor dem mitgeteilten Check-in um 15 Uhr einchecken könnte. Dies wird mir als unproblematisch bestätigt. So geht es nun die letzten Kilometer auf einem Radweg entlang der Aleja Warszawska in den Teil von Sandomierz, der rechts der Weichsel liegt und wohl die Neustadt ist. In der Rezydencja Bakamus werde ich freundlich empfangen, man könne mir das Zimmer aber nur früher geben, wenn ich bei booking.com storniere und dann bar zahle. Da das Ganze Gespräch in einem sehr gebrochenen Englisch stattfindet, brauche ich erst einmal länger, um zu verstehen, was gemeint ist. Lange Rede kurzer Sinn, mit der Stornierung wollte man wohl die Vergütung für booking.com einsparen und selbst einbehalten. Na ja, da ich nicht die anderthalb Stunden im Regen verbringen wollte und mich auch sprachlich auf keine Diskussion einlassen konnte, willigte ich ein. Nach einigem hin und her bekomme ich auch ein ordentliches großes Zimmer und sogar einen Begrüßungskaffee. Hier richte ich mich erst einmal ein.
Tagesstrecker: 29,97 Km
Spaziergang in die Altstadt von Sandomierz
Da ich nur eine Nacht hier bleibe, will ich mir unbedingt noch die Altstadt anschauen. Die Altstadt von Sandomierz gilt als eine der besterhaltenen in Polen. Ihre städtebauliche Struktur mit dem großen Stary Rynek (Altmarkt) soll typisch für die zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts sein. In der Zeit der Zweiten Polnischen Republik wurde Sandomierz zum Zentrum eines zu schaffenden Industriegebietes bestimmt. Infolge des Zweiten Weltkriegs wurde dieses Vorhaben nicht verwirklicht, was dem Stadtbild sicher gut getan hat. Der Grund, warum Sandomierz als eine der besterhaltenen Städte Polens gilt, liegt wohl in einer der wenigen positiven Episoden des 2. Weltkriegs. Beim Vorrücken der Roten Armee 1944 verhinderte der von dem malerischen Stadtbild beeindruckte Artilleriekommandeur, Oberst Skopenko, die Beschießung der Stadt, indem er den erhaltenen Befehl ignorierte. Angesichts ihrer aussichtslosen Situation kapitulierten die deutschen Einheiten, die die Stadt zu verteidigen hatten, kampflos, womit die Altstadt fast unbeschädigt den Krieg überstand.
Die Altstadt liegt etwa zwei Kilometer von meiner Rezydencja entfernt. Ich mache mich gegen 15 Uhr auf den Weg. Leider lässt meine Regen-App nicht erkennen, dass es doch noch mal zu regnen beginnt und der Regen im Laufe des Nachmittags immer stärker wird. So wird mein Spaziergang in die Altstadt von Sandomierz leider kein sonderlicher Genuss und wird der Stadt auch nicht gerecht. Die Stadt Sandomierz zählt nämlich zu den bedeutendsten Städten im polnischen Abschnitt der Via Regia und wurde bereits im 10. Jahrhundert erstmals urkundlich erwähnt. Sie wurde 1138 zum Zentrum und Hauptort eines kleinpolnischen Herzogtums Sandomir. Sandomierz wurde daher häufig von polnischen Königen besucht. Das Stadtrecht erhielt Sandomierz im Jahre 1236 verliehen. Beim Mongolensturm 1241 wurde die Stadt geplündert. 1259 nahmen Tataren Sandomierz ein und brannten Teile der Stadt nieder, darunter die Marienkirche. 1286 verfügte Herzog Leszek der Schwarze die Neugründung der Stadt nach Magdeburger Recht. Der polnische König Kasimir III. verbriefte und erweiterte 1366 die Rechte der Stadt, in deren Schloss er mehrfach residierte. Die damalige Bedeutung der Stadt zeigt sich auch daran, dass König Kasimir III. Sandomir in seinen Herrschertitel aufnahm: „König von Polen und Russland, Herr und Erbe der Länder und Herzogtümer von Krakau, Sandomir …“. Die wirtschaftliche Grundlage der Stadtbevölkerung bildete neben dem Handwerk der Getreidehandel auf der Weichsel, ihm verdankt die Stadt eine kulturelle Blüte im 16. Jahrhundert als Polen die Kornkammer Europas war. Rings um den Markt trifft man auf Bürgerhäuser, die über gut erhaltene und miteinander durch Gänge verbundene Wein- und Lagerkeller verfügen. Im Zweiten Nordischen Krieg nahmen schwedische Truppen 1655 Sandomierz ein. Der Krieg machte der städtischen Blütezeit ein Ende.
Während ich in die Stadt schlendere regnet es immer stärker. Vom rechten Weichselufer hat man zwar einen trüben aber doch eindrucksvollen Blick auf die Altstadt. Hauptsehenswürdigkeiten sind die Kathedrale St. Marien, das gotische Rathaus sowie das Schloss, das ursprünglich eine Burg aus dem 14. Jahrhundert war und 1525 im Renaissancestil umgebaut wurde. Sein heutiges Aussehen erhielt das Schloss aber erst nach der Zerstörung durch die Schweden im Jahr 1655. Als ich nach einer dreiviertel Stunde in der Altstadt ankomme, flüchte ich erst einmal in die Kathedrale. Da hier aber ein Gottesdienst bevorsteht, kann ich nur einige kurze Blicke hineinwerfen und wenige Fotos schießen. Danach geht es wieder hinaus in den Regen. Inzwischen finde ich meinen Spaziergang doch recht ungemütlich. So kehre ich auf dem Altstadtmarkt erst einmal in einem kleinen urigen Lokal ein und stärke mich mit Pelmeni und einem Bier.
Nach einer längeren Pause, inzwischen hat der Regen etwas nachgelassen, mache ich einen Spaziergang durch die Stadt. Es ist wirklich eindrucksvoll wie viel von der Altstadt noch erhalten ist. Dennoch macht es heute wenig Freude, hier herumzulaufen. Ich reduziere daher mein beabsichtigtes Sightseeing Programm. Der Reduktion fällt das architektonisch sehr eindrucksvolle Schloss zum Opfer, das von der einen Seite wie ein Schloss aussieht und von der anderen Seite noch als ursprüngliche Burg zu erkennen ist. Auch die Synagoge von Sandomierz, ein 1768 erbautes Backsteingebäude im Westen der Altstadt erspare ich mir. Sie erlitt im Zweiten Weltkrieg Zerstörungen und dient heute als Staatsarchiv. Trotz des Regens sind doch sehr viele Touristen in Sandomierz unterwegs und so wird es schwierig noch einmal in einer Gaststätte oder einem Restaurant einen Platz zu finden. Nach 17 Uhr ist der Ort dann aber innerhalb kurzer Zeit touristenfrei und so finde ich einen schönen Platz in einem alten Weinlokal. Hier wärme ich mich erst einmal mit einem Fruchtglühwein auf und genehmige mir noch ein Pizza und einen weiteren Fruchtglühwein. Mein Klamotten sind inzwischen doch recht feucht geworden, so dass die Wärme des Glühweins sehr wohltuend ist. Da ich keine Lust verspüre nun bei ziemlich heftigen Regen noch zu Fuß nach Hause zu gehen, bitte ich den freundlichen, wenn auch etwas unbeholfenen jungen Mann, der mich bedient hat, mit Hilfe meiner Übersetzungs-App mir doch ein Taxi zu bestellen. Das dauert zwar einige Zeit, weil es offensichtlich nicht so viele Taxen in Sandomierz gibt, aber als es kommt hat der junge Mann schon einen Preis von 25 Zloty (ca. 5 €) mit dem Taxifahrer ausgehandelt, den ich natürlich akzeptiere. In Leipzig hätte ich sicher das Doppelte für diese Strecke bezahlt.
So endet leider mein Besuch in Sandomierz. Ich tröste mich damit, dass ich hier auf dem zweiten Teil meiner Polen Reise, dem Green Velo, im nächsten Jahr noch einmal , hoffentlich bei besserem Wetter, vorbeikommen werde.