Der Morgen ist strahlend blau und der Tag verspricht heiß zu werden. Ich fühle mich etwas fahrig, weil ich vor den ca. 90 vor mir liegenden Kilometern einen gehörigen Respekt habe. Ich lasse mir das Frühstück noch einmal schmecken, obwohl es mir jetzt beim zweiten Mal eigentlich schon über ist. Zu fett, zu deftig, zu wenig Obst. Egal, nachdem ich bezahlt habe geht es los und die Ausfahrt aus Novi Sad oder genauer aus Petrovaradin ist auch nicht gerade vergnügungssteuerpflichtig. Ich kaufe noch Bananen und Brot ein. Auch in Serbien sind die Lebensmittelläden selbst auf den kleinsten Dörfern am Sonntag geöffnet. Auf der Hauptverkehrsstraße geht es bis Sremski Karlovci, einer schmucken Kleinstadt mit einem ansehnlichen barocken Stadtkern, die aber auch für ihren Weinbau an den Hängen der hier bis ans Donauufer heranreichenden Ausläufer der Fruska Gora bekannt ist.
Ja, diese Ausläufer wollte ich ja nun nach Möglichkeit umfahren, um nicht wieder so viele Höhenmeter auf mich nehmen zu müssen. Ich finde auch die richtige Abfahrt von der Hauptverkehrsstraße, mache mir aber keine genauen Vorstellungen von der Länge oder gar wie viele Kilometer ich dann schon zurückgelegt habe, sondern radele einfach Gedanken versunken vor mich hin. Ich freue mich, dass die Asphaltstrecke offensichtlich doch inzwischen verlängert worden ist, weil auf der Karte nur ein Drittel asphaltiert ist und zwei Drittel auf Feldweg hindeuten. Dann kommt aber doch noch Feldweg. Als der sich nach kurzer Zeit gabelt, denke ich, das wars jetzt und nehme den rechten Abzweig bergauf in der Hoffnung nun bald wieder auf die Hauptroute zu stoßen. Nach einem ziemlichen Aufstieg und der sich langsam durchsetzenden Erkenntnis, dass wohl alle meine bisherigen Interpretationen falsch gewesen sein müssen, lande ich bei dem Versuch, dies zu korrigieren, auf dem Grundstück des Einfamilienhauses einen gepflegt langhaarigen Serben so in meinem Alter. Mit Blicken überzeugt er sich, dass von mir keine Gefahr droht, und fragt mich nach meinem Begehr, ich gehe zumindest davon aus, dass er das tut. Da es zumindest mein Anliegen ist, ihm mein Begehr mitzuteilen, kommen wir uns näher. Er behauptet zwar kein Englisch zu können, was insofern zutreffend ist, dass er genauso radebrecht wie ich. Aber meistens kommt man mit diesem Gemisch ja weiter als mit richtigen Engländern, die man als Ausländer kaum versteht. Mit Hilfe des Blicks auf die Karte und meinen Hinweisen überzeugt er sich, wo und wie ich hinwill. Es geht über eine Wiese und als ich mich scheue, einfach so über eine fremde Wiese zu fahren, geht er mir als Führer voraus. Plötzlich krakelt eine Frauenstimme aus dem Nachbarhaus und er erläutert offensichtlich freundlich, was mein Anliegen ist. Gleich darauf ertönt von einer Frauenstimme der Ruf „Snaps“. Worauf er mich fragt, ob ich einen Schnaps möge. Ich sage herzlich gerne, aber bitte nicht jetzt. Ich müsse noch bis Beograd. Da er sich für den Schnaps entscheidet, wahrscheinlich um meine Unhöflichkeit zu kompensieren, mein Weg auch nicht mehr weit entfernt liegt, schiebe ich mein Fahrrad die Wiese das letzte Stück alleine hinunter.
Ich versuche dann erst einmal mit Hilfe der Karte eine genauere Feststellung meines Standortes. Als mir das gelungen ist lasse ich mich erst einmal nicht mehr vom Wege abbringen. So erreiche ich auch die richtigen Abzweigungen, muss aber dann feststellen, dass die Rückkehr auf die Hauptroute auch von einer hundsgemeinen Steigung begleitet wird, die mindesten 15 Prozent beträgt und durch einen in den Löss geschnittenen Hohlweg mit altehrwürdigem Kopfsteinpflaster führt. Als ich dann die Hauptroute erreiche, sehe ich ein Schild, dass der Markierung des Donauradweges zu entsprechen scheint und biege rechts ab. Warum ich das tue, obwohl ich das Schild überhaupt nicht richtig erkannt habe und obwohl die Karte eindeutig nach links verweist, ist mir hinterher ein Rätsel. Ich wundere mich nur, warum ich die nächsten 5 Kilometer stramm bergauf fahre und die Wegstrecke so wenig mit der Karte übereinstimmt. Schließlich gelange ich an eine Kreuzung auf der mir ein Schild entgegenstrahlt Beograd 81 Km und es zeigt in die Richtung, aus der ich komme! Ich bin nun an der Stelle angelangt, die ich eigentlich umfahren wollte. Habe also etwa 10 zusätzlich Kilometer und mindestens so viele Höhenmeter wie ich gehabt hätte, wenn ich die Hauptstrecke gefahren wäre. Nun zweifle ich an meinem Verstand und überlege, ob ich nicht doch besser den Schnaps getrunken hätte. Das war schon mal ein gelungener Beginn dieser Etappe.
An der Kreuzung treffe ich ein junges Radfahrerpärchen. Wie sich herausstellt sind es Engländer, die schon im Februar in England aufgebrochen sind und bis Istanbul wollen. Eine Verständigung ist kaum möglich, weil es halt Engländer sind, die erstens sehr schnell, zweitens mit einem für mich hochdifferenzierten Wortschatz und drittens einem mir unverständlichen Dialekt sprechen. Wir fahren ein Stück gemeinsam aber bald macht jeder wieder seins. Bis Beska gibt es noch einige Anstiege, danach ist die Fruska Gora aber überwunden und es geht wieder durch die Weiten der pannonischen Tiefebene, die hier aber anders als die ganz flache Puszta in Ungarn, etwas hügeliger ist. Auch hier also landwirtschaftliche Nutzung und weite Getreide und Gemüsefelder sowie Obstplantagen und Weinbau.
In Surduk, das etwa auf der Hälfte der Strecke nach Belgrad liegt, mache ich meine spartanische Mittagspause: Schinken-Käse-Brötchen, Banane, Apfel und Wasser. Plötzlich beginnt mein Magen merkwürdig zu rumoren und am Ende meiner Mittagspause weiß ich, dass ich nun sehr schnell eine Toilette brauchen werde. Ich schaue mich hilfesuchend um, aber scheue mich einfach jemanden anzusprechen, ob ich mal seine Toilette benutzen kann. Dann sehe ich in einer Toreinfahrt eine Reihe von Tischen und Bänken aufgebaut, die dem Ganzen den Anschein einer Art Besenwirtschaft geben. Und so ist es dann. Ich stelle mein Fahrrad in den Torbogen und gehe auf eine Gruppe mittlerer, älterer und einer ganz alten Frau zu, aus der sich dann eine Frau mittleren Alters löst, aufsteht und mich fragt: To eat? To drink? Und ich zur Antwort nur hauche: Toilette? Sie stutzt, lächelt dann und nickt heftig, gibt mir aber zu verstehen, dass die eine gerade besetzt sei und die andere wohl nicht gebrauchsfähig. Offensichtlich mahnt sie die Person in der besetzten Toilette zur Eile. Dafür bin ich ihr in meiner Situation auch sehr dankbar. Nach zugegeben wenigen Minuten erscheint eine weitere sehr alte Frau und ich kann nun endlich Platz nehmen. Nun plagt einen natürlich der Gedanke, wars das oder kommt da auf den nächst 50 km noch mal ein Anfall. Die Antwort bleibt natürlich an dieser Stelle offen. Als ich mich dankend verabschiede und der Wirtin 100 Dinar (etwa 80 Cent) geben will, weist sie diese empört von sich. Die anderen scheinen auf sie einzureden, sie solle das doch annehmen, aber sie bleibt hart. Die Dame hatte wirklich Prinzipien.
Die nächsten 20 km verlaufen dann ohne Probleme, wenn auch ein gewisses Rumoren im Magen-Darm-Bereich in mir öfter Befürchtungen aufkommen lässt. Dann beginnt bei Bastasjnica der Teil, den selbst der bikeliner als eine der unangenehmsten Abschnitte des gesamten Donauradweges bezeichnet. Es sind noch ca. 25 Km bis zum Ziel. Die nächsten 10 Km geht es auf einer der ziemlich engen Haupteinfallstraßen von Belgrad ohne Radweg und auch ohne Radstreifen. Gott sei Dank ist Sonntag und es sind wenige Lastwagen unterwegs. Die die da sind und vor allem die Busse reichen aber. Hier ist niemand bösartig gegenüber Radfahrern und es will auch niemand einem was Böses tun. Man will nur nicht wegen einem Radfahrer anhalten. So haben LKWs und Busse überhaupt kein Problem, im Abstand von 10 cm an mir vorbeizufahren, wenn Gegenverkehr ist. Wenn keiner ist scheren sie auch durchaus mal weiter aus. Wer hier meint sich gelegentlich mal umdrehen zu müssen, ist meines Erachtens verloren. Hier hilft nur: Stur geradeaus, Spurhalten und Gottvertrauen bzw. Schicksalsergebenheit. Nichts für Ideologen und sonstige Weltverbesserer. Sie wären hier alle dem Tode geweiht!
Als ich dann nach Karte von der Hauptstraße abbiegen kann, sieht es eigentlich nach einer sehr gemütlichen Abschlussfahrt hinein nach Belgrad aus. Der Weg führt zum Teil direkt an der Donau entlang und zum Teil sogar als Radweg. Das täuscht aber, auch wenn es nicht mehr ganz so unangenehm wird wie auf der Hauptstraße. Zunächst geht es durch Zemun, einem adretten und immer noch etwas altertümlich wirkenden Vorort, eine sehr schöne altehrwürdige Kopfsteinpflasterstraße hinunter zur Donau. Dabei macht die Straße dem Namen Kopfsteinpflaster alle Ehre. Wenn man dann unten ist, wird man oder wurde ich zumindest an diesem Sonntag von Hunderttausenden Belgradern nicht unbedingt herzlich empfangen. Durch dieses Wooling noch einmal 10 Km zurückzulegen ist nicht zu unterschätzen. Man muss nun die Konzentrationsleistung vollbringen, dass man selbst nicht jemandem zu nahekommt oder ein Kind anfährt, jemanden aus dem Rollstuhl stupst und was es sonst noch für traumatische Möglichkeiten gibt. Man ist hier übrigens nicht aggressiv gegenüber den anderen Verkehrsteilnehmern. Man scheint sich damit abgefunden zu haben. Also lass ich mich mehr oder weniger vom Strom treiben und versuche immer mal rauszubekommen, wo die Strömung am stärksten ist. Aber es gibt natürlich auch Engstellen, die aufhalten. Schließlich erreiche ich aber doch die Brücke über die Save, die ich überqueren muss, damit ich ins Zentrum von Belgrad gelange. Belgrad liegt nämlich mit seinem Zentrum sowohl an der Donau als auch an der Save, die hier in die Donau mündet.
Als ich die Brücke überquert habe, stehe ich mitten im Zentrum von Belgrad vor dem berühmten Hotel Mokwa mit seiner interessanten Jugendstilfassade. Da die Bürgersteige breit sind, denke ich, dass ich mein Ziel am besten auf diesen Wegen erreiche. Das erweist sich als Fehleinschätzung. Wie schon in Riga, St. Petersburg und Kaliningrad erlebt, ist man hier von Barrierefreiheit noch weit entfernt. Manche Fußgängerüberwege sind schlicht durch Unterführungen ersetzt und das setzt einem beladenen Fahrrad gewisse Grenzen, wenn man sich nicht nach 100 Km noch mal die Freude machen will, das Fahrrad fünfmal ab- und aufladen und es ebenso viele Male treppab- und treppauf zu tragen. Also stelle ich mein Navi ein und schmeiße mich in den Großstadtverkehr. Das geht dann auch ganz gut und gegen 19 Uhr erreiche ich ziemlich ausgepowert mein Ziel, was mein Darm inzwischen wohl auch für sehr notwendig hält. Nachdem ich herausgefunden habe, wo das Hotel Bohemian Garni genau ist, es liegt in einem alten Gebäude, dessen Ursprung eher ein Bunker gewesen sein könnte, aber das man innen doch ganz ansehnlich hergerichtet hat, rase ich zu Rezeption im 2. Stock und bitte als erstes auf die Toilette zu dürfen. Das erregt bei der jungen freundlichen Dame zwar eine gewisse Irritation, aber sie geht professionell damit um und bittet mich erst einmal um meinen Ausweis. Dann zeigt sie mir mein Zimmer im dritten Stock und lässt mich erst einmal in Ruhe. Als ich erleichtert zurück an der Rezeption erscheine überreicht sie mir mit einem freundlichen verständnisvollen Lächeln meinen Ausweis zurück und erklärt mir sozusagen das Haus. Leider spricht auch sie zu gut Englisch für mich und ich verstehe wenig. Ich erfahre zu meiner Freude, dass es keinen Aufzug hat, na ja, Bunker halt, und dass in der dritten Etage, ganz in der Nähe meines Zimmers ein Raum sei, in dem ich das Fahrrad unterstellen könne. Ich bin erfreut!
Nachdem ich mit durchaus tatkräftiger Unterstützung der Hotelmanagerin, als die sie sich dann später herausstellte, mein Gepäck auf mein Zimmer und mein Fahrrad in den Raum nebenan, einer Art Werkstattraum, untergebracht hatte, ließ ich mich erst einmal nur erschöpft auf einen Stuhl fallen. Ich machte mir noch ein Bier aus der Minibar auf, aber eigentlich wollte ich überhaupt nichts mehr, außer ins Bett fallen. Mir war inzwischen klar, dass in meinem Körper irgendetwas schieflief, aber ich hatte die Befürchtung, dass es der Sonne geschuldet war, die mir heute mit 32 Grad auf den Körper gebrannt hatte. Allerdings hatte ich doch Vorsorge getroffen, mich eingecremt und die Kappe den ganzen Tag nicht abgenommen. Etwas zum Essen brauchte ich heute nicht mehr. Ich konnte noch duschen, was gut und notwendig war. Fiel dann aber bald ins Bett und schlief ein.
Tagesdaten: 102,13 km/08:57 Std. Fz/11,40 km/h/572 Hm aufwärts/564 Hm abwärts