Wir frühstücken natürlich gemeinsam, aber jeder von uns macht sich das Frühstück nach seinen Bedürfnissen. Obwohl wir heute wieder entgegengesetzte Ziele haben, – Darek muss bis morgen zurück nach Warschau, für mich geht es weiter in Richtung Süden – wollen wir noch gemeinsam, das nur etwa 10 Kilometer entfernte Dreiländereck zwischen Polen, Belarus und der Ukraine besuchen, das diesmal mitten im Bug liegt. Polen hat wohl sechs Dreiländerecken und dies ist das einzige, das im Wasser liegt. Die letzten zwei Kilometer sind dann etwas beschwerlich. Der Boden ist durch Regen und schwere Fahrzeuge ziemlich aufgeweicht und uneben.
Aber wir schaffen es und stoßen auch auf ein Dreiländereck, dass die zur Zeit spannungsgeladene Situation in Europa sehr deutlich widerspiegelt. Während Polen hier keine besonderen Grenzsicherungsanlagen aufgebaut hat und man auf der Seite von Belarus auch keine sieht, hat sich die Ukraine verständlicher Weise gegenüber Belarus als einem der engsten Verbündeten von Russland regelrecht eingeigelt. Ein mit Nato-Draht versehener Zaun, dahinter Erdhügel hinter denen sich vermutlich Panzersperren befinden machen schon einen sehr verständlichen aber abweisenden Eindruck. Außerdem patrouillieren auch ständig ukrainische Soldaten entlang des Zaunes. Als wir ihnen zuwinken winken sie auch zurück. So verweilen wir hier eine Weile in stiller Beobachtung.
Danach geht es zurück und etwa vier Kilometer weiter stoßen wir wieder auf 812, wo wir uns dann voneinander verabschieden und Darek gen Norden und ich gen Süden fahren. Mein nächstes Ziel liegt nur etwa 10 Kilometer entfernt und ist das ehemalige Vernichtungslager Sobibor. Es war das kleinste der hier auf polnischem Gebiet von den Nationalsozialisten errichteten sechs Vernichtungslagern. Aber auch hier wurden schätzungsweise 150 bis 250 Tsd. vor allem jüdische Bewohner Ostpolens höchst heimtückisch, skrupellos und menschenverachtend in den Gaskammern ermordet. Zusätzlich wurden aber auch noch 33 Tsd. jüdische Bürger der Niederlanden hierher transportiert und ebenfalls in den Gaskammern ermordet.
Ich komme bereits am späteren Vormittag in Sobibor an und muss zu meiner Verwunderung erfahren, dass das Vernichtungslager Sobibor neugestaltet wird und man deshalb nur das Museum besuchen darf, nicht aber das Gelände Lagers an sich. Ich frage mich schon, was man an einem Vernichtungslager neu gestalten will. Ich finde schon das moderne Museumsgebäude am Lagerrand etwas unpassend, weil man meines Erachtens die Szenerie eines solchen Lagers möglichst authentisch rüberbringen sollte. Wenn man hier riesige Betonwände hoch zieht, wie ich gesehen habe, fragt man sich schon, was dies mit der Realität eines Vernichtungslagers zu tun hat.
Das Museum bringt mir nicht viele neue Erkenntnisse. Erwähnenswert ist allerdings, dass es am 14. Oktober 1943 in Sobibor zu einem Aufstand mit anschließender Massenflucht kam. Planung und Durchführung der Revolte gingen mehrheitlich zurück auf sowjetische Kriegsgefangene jüdischer Herkunft aus Belarus unter Führung des Rotarmisten Alexander Petscherski und des Zivilgefangenen Leon Feldhendler. Die Aufständischen töteten zwölf SS-Angehörige, darunter Josef Vallaster, und zwei Trawniki-Wachmänner. Trawniki-Wachmänner waren sogenannte „Volksdeutsche“, die als sowjetische Soldaten der Roten Armee in Kriegsgefangenschaft gelangt waren und nun von SS-Einheiten zu Aufsehern in den Konzentrationslagern ausgebildet wurden. Es waren überwiegend Ukrainer aber auch Letten, Esten, Litauern und Polen, die vor allem aus den Stammlagern im Distrikt Lublin stammten.
Als der Aufstand dann doch zu früh den SS-Wachleuten auffiel, brach unter den Gefangenen eine Panik aus, weil die Wachmänner sofort das Feuer eröffneten. Viele Gefangene starben im Kugelhagel der Wachleute oder im Minenfeld außerhalb der Stacheldrahtumzäunung. 365 Gefangene konnten aus dem Lager fliehen, davon erreichten etwa 200 den naheliegenden Wald. Bis zum Ende des Krieges konnten nur 47 Flüchtlinge des Lagers untertauchen oder sich Partisanengruppen anschließen.
Die SS ermordete danach die zurückgebliebenen Lagergefangenen, die nicht hatten fliehen können. Die getöteten SS-Angehörigen wurden eingesargt und in Chełm auf dem Soldatenfriedhof mit militärischen Ehren begraben. Das Lager wurde nach dem Aufstand nicht weiter genutzt, sondern dem Erdboden gleichgemacht. Danach blieben ein unverdächtig aussehender Bauernhof und ein speziell aufgeforsteter Jungwald auf dem ehemaligen Gelände des Vernichtungslagers zurück.
Die Darstellung des Aufstandes nimmt natürlich im Museum einen breiteren Raum ein. Deutlich wird auch mir dadurch, das es von dem Vernichtungslager kaum noch authentisch etwas zu sehen gab. Wahrscheinlich deshalb wurde im Jahr 2007 auf dem Gelände mit archäologischen Grabungen begonnen: 2011 wurde dabei die „Himmelfahrtsstraße“, ein etwa 100 Meter langer, in ein Asphaltfeld mündender Weg entdeckt. Im Jahre 2014 wurden die bis dahin unter der Asphaltdecke verborgenen Fundamente von vier Gaskammern ebenso wie ein zuvor verschütteter Brunnen im Lager I, von wo aus der Aufstand von Sobibór ausgegangen war, gefunden. In den Brunnen hatten Inhaftierte wohl zahlreiche persönliche Gegenstände geworfen, die nun im Museum in einem langen Vitrinentisch ausgestellt sind.
Nach dem Besuch des Museums, mein Fahrrad stand vor dem Museum sozusagen unter Bewachung, meine Lenkradtasche konnte ich bei der freundlichen Mitarbeiterin an der Kasse abstellen, mache ich mich auf den weiteren Weg nach Chelm. Es liegen noch gut 45 Kilometer vor mir, aber der Regen scheint Rücksicht auf mich nehmen zu wollen und beginnt nicht wie vorausgesagt bereits am Mittag. Erst drei Kilometer vor Chelm setzt der Regen so ein, dass ich mir noch die Regensachen überziehen muss. Hätte doch wirklich noch zehn Minuten warten können. Zu berichten gibt es sonst von der Tour heute allerdings nun nicht mehr viel und ich mache einfach nur Kilometer.
In Chelm habe ich mir für die nächsten zwei Nächte eine relativ noble Unterkunft zu einem sehr günstigen Preis gebucht. Das Hotel heißt Edels und liegt etwas abseits vom Zentrum an einer der Haupttangenten, der Nationalstraße 12. Als ich zur Rezeption komme werde ich von einer eleganten Dame etwa Anfang bis Mitte 50 in fließendem Englisch begrüßt. Als sie aus meinem Ausweis entnimmt, dass ich Doktor bin, wird sie ganz überschwänglich und fragt mich erst einmal aus, was ich für ein Doktor sei, welches Rechtsgebiet ich vertrete und dann musste ich ihr noch erklären, warum ich weder Richter, noch Staatsanwalt, noch Rechtsanwalt gewesen sei. Schließlich wollte sie noch wissen, wo mein Auto stehe. Nun, meine auf dem Tresen stehende Lenkradtasche hatte bei ihr offensichtlich keine anderen Assoziationen ausgelöst. Als sie dann auch noch hörte von wo ich mit dem Fahrrad herkomme, schüttelte sie erst einmal nur den Kopf. Also das käme für sie nicht in Frage sie fahre am liebsten nur mit dem Auto. Stolz deute sie auf ihren Kleinwagen der vor dem Hotel stand. Sie halte sich im Fitnessstudio fit, aber gehe auch da nicht aufs Fahrrad.
Nachdem ich dachte, dass wir nun zum Check in übergehen könnten, meinte sie mir aber nun ihre politischen Grundauffassungen vermitteln und ihr halbes Leben und auch noch von ihren Hobbys erzählen zu müssen. Sie hieß mich erst einmal im „wild east“ Polens willkommen, erzählte mir dass Polen das rassistischste Land Europas sei, dass sie es lediglich in Amerika, wo sie in den 1990er Jahren im Louisiana studiert habe, noch schlimmer gewesen sei. So sei dort der Unversitätscampus in einen schwarzen und einen weißen Bereich unterteilt gewesen. Sie sei keine Rassistin. Sie habe nur etwas gegen Araber, weil die die Frauen unterdrücken. Auf meine Frage hin, was sie denn studiert habe, sagt sie na, Englisch natürlich. Unvorsichtigerweise fragte ich weiter, warum sie dann hier sitze. Sie erzählt mir dann, sie sei zwölf Jahre als Englischlehrerin tätig gewesen, habe das aber aufgegeben, weil Lehrer in Polen schlecht bezahlt werden. Ob sie hier denn mehr bekomme, wollte ich dann wissen. Nein, aber in etwa das Gleiche und sie brauche sich nicht mehr über die nasty (bösen) Schüler und nasty Eltern aufzuregen. Hier könne sie die ganze Welt empfangen und das gefalle ihr. Na ja, ob man in Chelm gerade die ganze Welt empfangen kann, scheint mir doch etwas zweifelhaft. Aber ich hielt das dann doch lieber für mich.
Zu ihren Hobbys wie sie mir dann noch erzählt gehören vor allem amerikanische Krimis, die sie aber nicht liest, sondern sich Filme zu jeder Tages- und Nachtzeit anschaut. Die amerikanischen Krimis seien wirklich das Brutalste, was sie kenne und das liebe sie so. Nun war ich darüber auch im Bilde. Sie hat offensichtlich doch einiges von den Amerikanern aufgenommen. Nicht nur die Liebe zum Auto, um alle Wege damit zu machen, sondern auch die amerikanischen Krimis.
Das Gespräch war für mich ausgesprochen schwierig, weil sie wohl meinte, mein Doktortitel beinhalte natürlich auch die Kompetenz umfassender Englischkenntnisse und erst nach und nach merkte, dass dem nicht der Fall ist. Ich war dann schon ziemlich erschöpft als wir endlich dazu kamen mich einzuchecken. Ich durfte mein Fahrrad im Gepäckaufbewahrungsraum abstellen und auch meine nasse Regenhose und den Regenschutz für die Fahrradtaschen dort aufhängen. Dann durfte ich auf mein Zimmer und das entschädigt mich nun doch für den langen Prozess des Eincheckens. Das Zimmer war groß, geräumig und hatte einen Schreibtisch, insofern alles was ich brauchte.
Nachdem ich mich etwas frisch gemacht hatte, wanderte ich noch in das etwa 500 m entfernte Biedronka und deckte mich mit dem Nötigsten für die nächsten beiden Tage ein. Mein Abendessen nahm ich schon deshalb im hoteleigenen Restaurant ein, weil der Weg zu den nächsten Restaurants etwa 1,5 Kilometer gewesen wäre. Das war mir dann bei Regen doch etwas weit. Das Essen war sehr gut und hatte auch keinen überhöhten Preis. So konnte ich meinen Aufenthalt in Chelm doch sehr positiv beginnen.
Tagesstrecke: 72,42 Km; 1,56 Km/h; 168 Hm