27. Tag: 14. Mai 2023 – Von Kleszczele nach Janow Podlaski

Da heute ein lange Strecke vor mir liegt, fahre ich schon um 7:45 Uhr los. Die Sonne strahlt und mit den angekündigten Temperaturen von 23 Grad verspricht es der bisher wärmste Tag auf meiner Tour zu werden. Die größte Herausforderung des heutigen Tages ist die Überquerung des Flusses Bug. Man kann den Fluss grundsätzlich an zwei Stellen mit der Fähre und an einer Stelle auf einer Brücke überqueren. Die für den Green Velo vorgesehene Fährverbindung liegt kurz vor der belarussischen Grenze von Niemirow nach Gnojno. Kurz danach wird der Bug dann zum Grenzfluss zwischen Belarus und Polen. Diese Fährverbindung ist aber bereits seit zwei oder drei Jahren nicht mehr möglich, weil sich irgendwelche Sandbänke im Fluss gebildet haben, die die Fährverbindung unmöglich machen und die man offensichtlich auch nicht beseitigt bekommt. Die zweite Fährverbindung ist etwa 10 Kilometer weiter westlich zwischen Mielnik und Zabuze. Diese Fährverbindung ist saisonal und pegelstandsbedingt erst morgen wieder geöffnet wie ich vor einigen Tagen erfahren habe. Bleibt mir also nur die Überquerung des Bugs auf der Nationalstraße 19 zwischen Siemiatycze und Sarnaki noch einmal weitere 10 Kilometer westlich. Dies führt allerdings dazu, dass sich die Tour von ca. 75 auf ca. 95 Kilometer verlängert hat.

Die ersten 15 Kilometer geht es über sehr gut asphaltierte Straßen flott voran bis zu dem kleinen Dorf Rogacze mit seiner sehenswerten, erst kürzlich sanierten orthodoxen Kirche. Die Kirche ist gerade geöffnet, so das ich einen Blick hineinwerfen kann. Um 9:00 Uhr wird der Gottesdienst beginnen und die ersten Gläubigen, insbesondere ältere Frauen, treffen dazu ein. Direkt hinter Rogacze ist es dann erst einmal mit den gut asphaltierten Straßen vorbei und es geht wieder einmal für 10 Km über mehr oder weniger feste Sandpisten. Ab dem Ort Nurcec-Stacja geht es wieder auf asphaltierten Straßen bis nach Grabarka.

Der Berg Grabarka befindet sich neben dem gleichnamigen Dorf. Es ist der wichtigste Ort der religiösen Verehrung der orthodoxen Gläubigen in Polen. Der Legende nach erlebte ein unbekannter Einwohner von Siemiatycze während der Cholera-Epidemie eine Offenbarung, bei der er hörte, dass der einzige Weg, sich zu retten, darin bestand, mit dem Kreuz auf den Berg Grabarka zu gehen. Die Bevölkerung der Stadt ging zu dem Hügel, von dem ein Bach floss. Die vor der Epidemie Geflüchteten, die Wasser aus dem Bach tranken, überlebten. Die Legende besagt, dass nach diesem Ereignis niemand mehr an der Krankheit gestorben ist. Im selben Jahr errichteten Pestüberlebende (?) als Dank für ihr Leben eine Holzkapelle auf dem Berg.

Auf dem Berg, den man wohl eher als Hügel bezeichnen sollte, befindet sich ein 1947 gegründetes Nonnenkloster sowie drei Klosterkirchen. Die Hauptklosterkirche (Verklärung) ist auch eine Pfarrkirche. Das Kloster, Kirchen und zwei Pilgerhäuser (Holz und Ziegel) bilden die Siedlung Grabarka-Kloster. In der Siedlung befindet sich auch ein orthodoxer Friedhof.

Als ich in Grabarka ankomme, herrscht hier ein reger Betrieb. Gerade ist wohl ein Gottesdienst zu Ende gegangen und die Gläubigen tummeln sich vor dem Gotteshaus und auf dem Berg, während der Priester in einer kleinen Prozession von dannen zieht. Für mich als orthodoxen Laien ist besonders auffällig und erstaunlich die Masse unterschiedlichster orthodoxer Holzkreuze hier auf dem Berg. Offensichtlich gehört es auch zum Ritual, dass die Holzkreuze, die man mitbringen soll, um sich zu retten, hier auf dem Berg auch verbleiben. Es sind sicher Tausende.

Ich verweile einige Zeit hier und betrachte das Treiben. In die Kirche selbst traue ich mich nicht hinein. Erstens ist dort fotografgieren untersagt und zweitens sind noch viel Gläubige mit mir unbekannten religiösen Ritualen beschäftigt, bei denen ich nicht stören möchte. Da ich noch über 50 Kilometer vor mir habe, mache ich mich dann bald wieder auf den Weg.

Ich verlasse nun den Green Velo und begebe mich sozusagen auf die 20 zusätzlichen Kilometer. Nach knapp 15 Kilometern erreiche ich die Brücke über den Bug. Knapp drei Kilometer muss ich dabei auf der auch am heutigen Sonntag viel befahrenen N 19 hinter mich bringen. Es ist aber wieder einmal harmloser als befürchtet, denn außer über die Brücke selbst gibt es einen breiten asphaltierten Seitenstreifen, auf dem man als Radfahrer gut und relativ geschützt fahren kann. Lediglich auf der Brücke wird es eng, weil hier eine Baustelle ist und der Verkehr einspurig mit Ampelregelung über die Brücke führt. Da ich der letzte bin der bei grün über die Brücke fährt bin ich als langsamster natürlich auch durch diese Verkehrsführung benachteiligt. Schon bevor ich die Hälfte der Brücke erreicht habe, springt die Ampel für den Gegenverkehr wieder auf grün und mir kommen gleich zwei dicke LKW entgegen. Man kann natürlich etwas ausweichen und die Situation ist auch nicht wirklich riskant. Was ich am meisten bedauere, dass ich wegen der Verkehrssituation nicht dazu kam den phantastischen Blick auf den Bug von hier oben fotografisch festzuhalten.

Als ich auf der anderen Seite bin und gleich darauf von der N 19 auf eine ruhigere Nebenstraße abbiegen kann, mache ich erst einmal auf einem Rastplatz meine Mittagspause. Nun liegen immer noch etwa 40 Kilometer vor mir. Kurz nach mir kommen drei weitere Radfahrer mit großem Gepäck auf dem Rastplatz an und lassen sich wohl ebenfalls zur Mittagspause nieder. Ein Gespräch ist leider unmöglich, weil ich eben kein polnisch und sie auch kein englisch verstehen.

Über den Weg gibt es nun wenig, was noch zu berichten wäre. Die landwirtschaftlich genutzten Flächen auf dieser Seite des Bugs werden nun wieder mehr und der Wald wird dadurch weniger. Ich fahre kurz an der Stelle bei Zabuze vorbei, um zu sehen, ob die Fähre tatsächlich noch nicht wieder ihren Betrieb aufgenommen hat, aber es ist weit und breit keine Fähre zu sehen. Interessant ist aber noch, dass ich auf den letzten 25 Kilometern nun durch drei Woiwodschaften fahre. So verlasse ich die Woiwodschaft Podlachien, durch die ich nun schon über zwei Wochen gereist bin, fahre dann eine halbe Stunde durch die Woiwodschaft Moldawien, eigentlich die größte Woiwodschaft in Polen, aber sie schiebt sich hier wie ein kleiner Keil zwischen Podlachien und die Woiwodschaft Lublin, die ich nun erreiche und durch die ich nun auch mehrere Tage fahren werde.

Hier einige Worte zur Wirtschaftskraft der Woiwodschaft Lublin. Im Vergleich mit dem BIP der EU ausgedrückt in Kaufkraftstandards erreichte die Woiwodschaft Lublin 2018 einen Index von 48 (EU-27 = 100), bezogen auf den Wert pro Erwerbstätigem erreichte die Region hingegen einen Index von 54 (EU-27 = 100). Die Woiwodschaft Lublin ist somit die strukturschwächste Region Polens und gehört zu den ärmsten Regionen innerhalb der EU. Mit einem Wert von 0,866 erreicht Lublin Platz 12 unter den 16 Woiwodschaften Polens im Index der menschlichen Entwicklung.

Masowien ist die wohlhabendste Region in Polen. Insgesamt beträgt das Bruttoinlandsprodukt 2018 über 112,2 Milliarden Euro, was gut ein Fünftel der Wirtschaftsleistung des gesamten Landes ist. Im Vergleich mit dem BIP der EU ausgedrückt in Kaufkraftstandards erreichte die Woiwodschaft 2018 einen Index von 114 (EU-27 = 100), bezogen auf den Wert pro Erwerbstätigem erreichte Masowien hingegen einen Index von 111 (EU-27 = 100). Dies muss man allerdings insoweit relativieren, weil es vor allem der wirtschaftlich sehr starken Region um Warschau herum zu verdanken, in welcher der BIP-Index im EU-Vergleich 2018 bei 156 liegt. Die anderen Regionen der Woiwodschaft sind überwiegend ländlich geprägt und erreichen einen Wert von 60, was auch unter dem polnischen Landesdurchschnitt liegt.

Nun aber wieder zurück zur heutigen Tour. Es gibt dann noch einen ausgewiesenen Aussichtspunkt zum Bug, den ich mir nicht entgehen lassen will. Von hier hat man einen ersten sehr schönen Blick auf den Fluss, getrübt allerdings von der Tatsache, dass das gegenüberliegende Ufer unerreichbar ist, weil der Fluss zwar noch kein eiserner Vorhang aber inzwischen nicht mehr einfach überquert werden kann. Für die nächste etwa 150 Kilometer trennen der Bug nun Polen von Belarus und die Grenze ist inzwischen wohl weit gehend dicht.

Gegen 18 Uhr erreiche ich dann Janow Podlaski. Bevor ich mein heutiges Quartier aufsuche, entdecke ich noch einen geöffneten Supermarkt und versorge mich noch mit dem Nötigsten für heute Abend und morgen: Brötchen, Wasser, zwei Äpfel und zwei Bier. In meiner Unterkunft werde ich freundlich empfangen. Eine Verständigung scheitert aber leider an den beidseitigen Sprachbarrieren. Die Vermieterin zeigt mir aber alles und ich habe ein gemütliches Zimmer mit allerdings vier Betten einem Tisch, mehreren Stühlen und einem Wasserkocher, so dass mein morgiges Frühstück, dass ich mir auch hier selbst zubereiten muss, gesichert ist. Löslichen Kaffee und Kaffeesahne habe ich inzwischen schon seit gestern im Gepäck.

Zum Abendessen gehe ich noch einmal ins Zentrum und werde in einer Bar mit Pizzeria fündig. Der Besitzer spricht sehr gut deutsch und ist wohl, wenn ich es richtig verstanden habe sogar in Nürnberg geboren. Ein gezapftes Bier bekomme ich recht schnell, auf die Pizza muss ich allerdings recht lange warten, die Qualität entschädigt allerdings für die Wartezeit. Danach reicht es aber für heute und ich trolle mich zurück in meine Unterkunft, genehmige mir noch ein zweites Bier und falle dann ins Bett.

Tagesstrecke: 99,05 Km; 12,52 Km/h; 424 Hm

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