Heute wird es ein langer Tag. 115 Kilometer liegen vor mir. Ich habe ich Imatra eine recht preiswerte Unterkunft gefunden, wo ich dann zwei Nächte bleiben will. Bevor ich aufbreche, frühstücke ich reichlich. Dann wird gepackt und los geht’s. Nach etwa anderthalb Kilometern lässt mich ein merkwürdiges Knacken aufhorchen. Bald merke ich, dass es von der Kette kommt und die Pedaldrehung scheint bald zu blockieren. Also steige ich ab und versuche die Ursache zu finden. Das ist nicht weiter schwierig, denn schon auf den ersten Blick kann ich feststellen, dass ein Kettenglied droht auseinanderzureißen. Ich überlege, ob ich gleich eine neue Kette aufziehe, zu deren Mitnahme mich Heidrun vorausblickenderweise überredet hatte oder ob ich es erst noch einmal mit einer Reparatur versuche. Mit dem Kettennieter gelingt es dann doch, das Kettenglied wieder ineinander zu drücken. Allerdings habe ich wenig Vertrauen, dass das lange hält. Der Versuch ist es aber wert.

Ich bin dann doch erstaunt, dass die Fahrt auf den nächsten Kilometern so gut läuft, obwohl ich Schotterstraßen fahren und einige Hügel überwinden muss. Das Wetter ist wieder herrlich, aber es droht auch sehr warm zu werden. Der erste Teil der Tour ist eine Art Inselhopping durch das Seengebiet des Großen Saimaa. Die Landschaft und die Blicke habe ich mir hier eigentlich eindrucksvoller vorgestellt. Aber die Seen sind von Wald umgeben und so erhält man von der Straße aus nur selten einen Blick auf die Weite der Seen. Das gilt auch für das Punkaharju Os, einen 7 Kilometer langen und 25 Meter hohen Hügelrücken, zwischen den beiden großen Seen Puruvesi und Pihaljavesi, die beide mit 416 Qkm und 712 Qkm zu den größten Seen Finnlands gehören. Der Hügelrücken gehört zu den finnischen Naturdenkmälern und es führt eine Straße drüber, die ich auch nutze. Die Fahrt im Schatten der Bäume ist zwar recht angenehm, aber hindert auch die schönsten Ausblicke auf die Seenlandschaft, die man aber zwischen den Bäumen erahnen kann.

Die Gegend ist ziemlich überlaufen. Offensichtlich scheinen hier viele Finnen aber auch Russen ihren Urlaub zu verbringen. Mit einer Hütte am See stelle ich mir das auch idyllisch und bei entsprechender Infrastruktur auch angenehm vor. Übrigens sind die Mückenplage und auch die Begleitung durch die Pferdebremsen seit etwa drei Tagen deutlich zurückgegangen. Offensichtlich werden sie bei der Hitze zu lethargisch, um sich weiter auf mich zu stürzen.

Nach dem Punkaharju Hügelrücken geht es auf der Landstraße 4063 rund 55 Kilometer wieder durch die finnischen Wälder. Es wird immer heißer und ich merke, dass die Fahrt heute Kraft kostet. Nach einer längeren Mittagspause, die ich auf einer etwas in die Jahre gekommenen Bank vor einem heute am Sonntag geschlossenen Kiosk in Vuoriniemi finde, der einzigen Bank übrigens auf einer Strecke von etwa 50 Kilometern, geht es weiter. Nach etwa fünf Kilometern geht es einen ziemlich gemeinen Hügel hoch, bei dem ich schon Schlimmes befürchte und plötzlich knackt es auch wieder und ich brauche nur hinunter auf die Kette zu schauen, da sehe ich, dass die Kette beim nächsten Pedaltritt auseinanderreißen wird. Nun ja, immerhin hat sie noch 55 Kilometer gehalten.

Ich steige also von Rad, schiebe es den Hügel hinauf und gelange zu einer der hier zahlreichen Bushaltestellen, die Einbuchtungen von der Straße weg sind und richte mir meine Werkstatt ein. Nun geht es wirklich daran, die Kette zu wechseln. Theoretisch ist das keine sonderliche Herausforderung. Ich habe eine nagelneue noch eingepackte Kette, die auch die richtige für meinen Pinionantrieb ist. Sie hat sogar ein Kettenschloss und es müsste daher noch einfacher sein. Ich ziehe also erst einmal die alte Kette ab und lege die neue ein. Soweit geht noch alles gut. Dann klemme ich zum justieren der Kette die Spange des Kettennieters ein und verkürze die Kette auf die meines Erachtens notwendige Länge, indem ich mit dem Kettennieter einige Glieder entferne. Leider hatte ich vergessen, ob wohl mir Wolfgang Konnerth das mal erklärt hatte, dass es an einer Fahrradkette zwei unterschiedliche Kettenglieder gibt. Ich nenne sie mal äußere und innere Kettenglieder. Um die Kette mit dem Fahrradschloss zu schließen braucht man zwei gegenüberliegende innere Kettenglieder, weil das Fahrradschloss ein äußeres Kettenglied bildet. Daran hatte ich nicht mehr gedacht, sondern nach meiner Verkürzung standen sich ein äußeres und ein inneres Kettenglied gegenüber. Hätte ich nun das äußere Kettenglied noch entfernt, wäre die Kette zu kurz gewesen und ich hätte das Schloss nicht mehr zubekommen. Also musste ich nochmal ein Glied wieder einsetzen. Mit dem alten Nietstift, den ich vorher herausgedrückt hatte, gelang mir das nicht. Gott sei Dank hatte ich noch einen neuen Ersatznietstift mit. Mit dem bekam ich es hin und als es mir auch noch gelang, das Schloss zu montieren, was einfach ist und zu schließen, was sich als nicht so ganz einfach erwies, betrachte ich zufrieden mein Werk, machte eine Proberunde, putzte mühsam meine Hände mit den mitgenommenen Reinigungstüchern, packte meine sieben Sachen zusammen, montierte mein Gepäck und fuhr weiter.

Leider war ich die ganze Zeit so auf die Lösung meines Problems fixiert, dass ich ganz vergessen hatte, ein Foto von meiner Werkstatt zu machen. Ich hatte etwa anderthalb Stunden für die Reparatur gebraucht. Bei entsprechender Routine geht das sicher auch in einer Viertelstunde. Aber wenn man mit zwei handwerklich linken Hände versucht sich in die Fahrradmechanik einzuarbeiten, kostet das halt Zeit. Die meiste Zeit brauche ich übrigens immer dafür, dass ich, wenn ich ein Kleinteil weggelegt habe, meist, wenn ich es wieder brauche, nicht mehr weiß wohin. Beim Kettenwechsel hat man es ja meistens mit Kleinteilen wie Nietstiften, Kettenschloss und Justierspange zu tun, die dann für ältere Augen auf eine etwas größere Entfernung nicht mehr so gut sichtbar sind. Aber vielleicht lerne ich ja für solche Fälle auch noch Verfahren, die die Zeit verkürzen. Heidrun hat mir auf ihre praktische Art gleich empfohlen, ein helles Tuch für solche Fälle auszubreiten und mir dann noch anzugewöhnen, solche Teile dann möglichst auch dort abzulegen. Hoffentlich denke ich dran.

Als ich wieder losfuhr war es schon nach 16 Uhr und ich hatte noch 55 Kilometer vor mir. Ich hatte inzwischen viel Durst und obwohl ich drei Liter Wasser mithatte, drohte es doch zur Neige zu gehen. So musste ich mein Bedürfnis nach Flüssigkeit einteilen und kam sozusagen auf dem letzten Tropfen gegen 20:30 Uhr in Imatra an. Mein Quartier war mit dem Navi leicht zu finden. Es ist ein Haus am Stadtrand mit etwa 9 Zimmern im Erdgeschoss. Die Haustür ist offen und bei der Buchung hatte man mir einen Code mitgeteilt, mit dem ich vor meiner Zimmertür ein Schlüsselkästchen öffnen kann. Das Zimmer ist sehr klein, etwa 10 Qm mit zwei Betten, einem Tisch und zwei Stühlen und somit kaum Ablagemöglichkeiten. So muss ich wie in den Hütten auf den Campingplätzen auch das zweite Bett als Ablagemöglichkeit nutzen. Ansonsten ist es aber recht ordentlich. Das Gemeinschaftsbad ist auch zufriedenstellend. Ich habe mich inzwischen daran gewöhnt. Leider fehlt eine Küche. So muss man sich alles auf dem Zimmer zubereiten. Im Eingangsbereich steht nur eine Kaffeemaschine und ein Wasserkocher.

Nachdem ich mich eingerichtet habe, fahre ich noch schnell ein paar hundert Meter zurück zu einem Konsum, der auch heute am Sonntag bis 22 Uhr geöffnet hat und den ich bei der Herfahrt zu meiner Freude entdeckt hatte. Ich brauche unbedingt Wasser, Müsli, Joghurt und habe auch nur noch ein Bier als eiserne Reserve. An der Kasse weist mich die freundliche Kassiererin darauf hin, dass sie mir das Bier nicht mehr verkaufen dürfe. In Finnland gebe es ein Gesetz, dass Bierverkauf nach 21 Uhr untersage. Es ist gerade 21:03 Uhr. Aber da sind die Finnen scheinbare rigoros und so kann ich mich nur noch darüber freuen, dass ich zumindest noch eine eiserne Reserve habe!

Tagesdaten: 114,54 Km; 08:17:00 Std. Fz.; 13,82 Km/h; 828 Hm

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