Als ich heute morgen in das Restaurant komme, bin ich offensichtlich alleine im Hotel. Es steht aber eine freundliche Kellnerin bereit, die mir ein sehr schönes polnisches Frühstück serviert. Nach dem Frühstück gehe ich noch schnell in den Lidl nebenan und fülle meine Getränkevorräte auf. Dann schwinge ich mich wieder auf mein Rad und fahre die acht Kilometer nach Żelazowa Wola. Żelazowa Wola ist ein Dorf, gehört noch zur Gemeinde Sochaczew und hat 65 Einwohner. Eigentlich hatte ich mit einem kleinen Haus gerechnet. Das ist es wohl auch, aber es ist von einer großen Parkanlage umgeben. Der Park ist nicht öffentlich zugänglich, sondern man muss Eintritt zahlen. Zu meiner Enttäuschung ist das Geburtshaus Chopins heute nicht geöffnet, weil Montag ist. Auf der Webseite im Internet war das leider nicht erwähnt. So bleibt mir nur der Besuch des Parks und der Blick von außen auf das Haus, in dem Chopin geboren wurde und aufgewachsen ist.

Frédéric Chopins Eltern waren der aus Lothringen stammende Sprachlehrer Nicolas Chopin, wie der Name erkennen lässt ein Franzose und die Polin Tekla Justyna Chopin, geborene Krzyżanowska. Die Eltern Chopins verband die Leidenschaft zur Musik: der Vater spielte Geige und Flöte, die Mutter spielte Klavier und sang.  Im Jahr 1787 hatte Nicolas Chopin mit einer polnischen Familie, die zurück in die Heimat wollte und sich um den Jungen gekümmert hatte, Frankreich verlassen. Nicolas nahm später in Polen die polnische Staatsbürgerschaft an und benutzte als Vornamen die polnische Form „Mikołaj“ Er arbeitete als Bürokraft und Hilfsarbeiter. Nach dem Untergang des Königreiches Polen 1795 verdiente er seinen Unterhalt als Hauslehrer für Französisch beim polnischen Adel. Später war er Französischlehrer am Liceum Warszawskie, zunächst als Collaborator und ab 1814 bis zur Schließung der Schule 1833 als Gymnasialprofessor.

Chopin wuchs, wie sein Biograph hervorhebt, in liebevoller, anregender häuslicher Atmosphäre auf, wobei die Familie bereits 1810, also im Geburtsjahr Chopins, nach Warschau zog. Irgendeine Verbindung zu seinem Geburtsort hat er schon deshalb wohl kaum entwickeln können. Seine lebenslange enge Bindung an Familie und Heimat waren zwar bestimmend für seine Persönlichkeit. Die Heimat bezog sich aber wohl eher auf Warschau als auf seinen Geburtsort. Der als Wunderkind geltende Chopin erhielt seine musikalische Ausbildung in Warschau, wo er auch seine ersten Stücke komponierte. Die ersten zwanzig Jahre seines Lebens verbrachte er in Polen, das er am 2. November 1830 aus beruflichen und politischen Gründen verließ. Der Novemberaufstand 1830 drohte zu scheitern. Ab Oktober 1831 bis zu seinem Tod (1849) lebte Chopin überwiegend in Frankreich. Er besaß ab 1835 auch die französische Staatsbürgerschaft. Chopin ist wie Robert Schumann, Franz Liszt, Felix Mendelssohn Bartholdy u. a. ein Repräsentant der Romantik, die in Chopins Wahlheimat Frankreich ihre Blütezeit zwischen 1815 und 1848 hatte. Sein Leben war jedoch geprägt von Krankheit. Zuletzt war er mittellos und auf die Hilfe von Freunden angewiesen. Er starb im Alter von 39 Jahren, höchstwahrscheinlich an einer Herzbeutelentzündung als Folge einer Tuberkulose.

Das Geburtshaus Chopins war das Hinterhaus eines Herrensitzes. Den Herrensitz aus dem 16. Jhdt. hatte 1800 der Graf Sarbek erworben. Mikolaj Chopin diente als Erzieher der Kinder. Das Herrenhaus gibt es heute nicht mehr. Der Chopin-Kult in Żelazowa Wola begann Ende des 19. Jhdt. mit der Aufstellung des ersten Chopin-Denkmals im Jahre 1894. In den 1930er Jahren begann man dann mit der Schaffung eines Parks als Gesamtdenkmal zu Chopins Ehren. So hat der Park inzwischen den Charakter eines historischen Denkmals. Ich mache einen längeren Spaziergang durch den Park vorbei an, wenn ich richtig gezählt habe, vier Denkmälern für Chopin und genieße die Ruhe. Auf einer Bank mache ich dann Mittagspause und verzehre meine bei Lidl erworbenen Laugenkäsestangen. Nach meiner Mittagspause geht es dann weiter.

Ich fahre auf Nebenstraßen über Land und komme nach einiger Zeit auch an der Kirche St. Rochus und Johannes der Täufer in Brochow vorbei, in der Frederic Chopin getauft wurde. Die Kirche ist sehr schön restauriert, ist aber leider verschlossen. Das Hauptportal ist zwar offen, aber in Gittertor versperrt den Gang ins Innere. Man kann also nur von hier in den Innenraum, hineinblicken. Dann geht es weiter zunächst über Nebenstraßen parallel zum Fluss Bzura, einem linken Nebenfluss der Weichsel. Die Gegend, durch die ich jetzt fahre hat eine auch für Polen dramatische Vergangenheit und für uns Deutsche auch eine schwere historische Schuld. Hier tobte vom 9. bis 19. September 1939 die Schlacht an der Bzura. Sie war die Entscheidungsschlacht, die nach dem Überfall Deutschlands auf Polen im deutsch-polnischen Krieg zwischen deutschen und polnischen Truppen stattfand.

Bereits kurz nach dem Beginn des deutschen Überfalls auf Polen gelang es der Wehrmacht, die polnischen Linien zu durchbrechen. Die deutschen Truppen drangen so von Norden und Südwesten in die Tiefe Polens vor. Dem polnischen Heer gelang es, im Gegenzug – unbemerkt von der deutschen Aufklärung – unter General Tadeusz Kutrzeba zwei polnische Armeen bei Kutno nördlich der Bzura zusammenzuziehen. Um den Vorstoß der Wehrmacht abzuschwächen, griffen die Polen die vorrückende 8. Armee der Deutschen an der Flanke und im Rücken an. Die 8. Armee wurde dadurch ernsthaft bedroht. Nachdem es der Wehrmacht gelungen war, die Situation zu stabilisieren, wurde eine Umfassung der polnischen Truppen eingeleitet. Aus dem Norden und Westen griff die 4. Armee an. Zusätzliche Unterstützung für die 8. Armee kam in Form zahlreicher Panzer und schneller beweglicher Verbände der 10. Armee im Südosten. Die polnischen Streitkräfte waren eingekesselt und die vereinigten deutschen Kräfte begannen mit Unterstützung von 820 Flugzeugen am 16. September einen Großangriff. Nach hohen Verlusten und einem missglückten Ausbruchsversuch sowie dem Überfall der Sowjetunion auf Ostpolen am 17. September ergaben sich die polnischen Verbände am 19. September. Somit war die entscheidende und längste Schlacht verloren, 170.000 Soldaten gerieten in deutsche Kriegsgefangenschaft.

Nahe der Weichsel stoße ich dann auf einen Hinweis auf ein Denkmal, dass an diese Schlacht erinnert. Es steht direkt am Weichselufer und ist ausweislich einer Inschrift 258 Soldaten der polnischen Armee gewidmet, „die bis zur letzten Kugel kämpften, erschossen am 18. September 1939, nachdem sie gefangen genommen worden waren, und 106 Zivilisten, die von Nazideutschland ermordet wurden, um sie zu unterstützen“. Es ist schon beklemmend, wenn man immer wieder an Orten vorbeikommt, wo Deutsche in Polen Verbrechen begangen haben, denn bereits gefangene Kriegsgegner zu liquidieren war auch damals schon ein Kriegsverbrechen.

Ich fahre nun wieder ein Stück zurück und mit einigem Abstand parallel zur Weichsel bis ich zur Nationalstraße 50 komme, die hier über die Weichsel führt und über deren Brücke ich nun auch über die Weichsel fahren muss. Die Brücke hat Gottseidank eine abgesicherten Seitenstreifen, denn der Verkehr lädt nicht gerade dazu ein auf dieser Straße über die Brücke zu fahren. Da ich auf dem Seitenstreifen fahre kann ich aber auch den wunderschönen Blick auf die Weichsel und das Delta der Bzura genießen. Ein Blick der nicht erahnen lässt, welche Grausamkeiten hier vor 82 Jahren stattfanden. Als ich meinen Blick schweifen lasse entdecke ich auf dem rechten Weichselufer ein Tier, bei dem es sich meines Erachtens um eine Elchkuh handeln müsste. Ich verweile hier einige Minuten und genieße den Blick. Dann geht es weiter nach Wyszogrod, einem kleinen Ort an der Weichsel, den Nazideutschland nach der Besetzung zwischen 1939 und 1945 Hohenburg an der Weichsel nannte. Leider habe ich Schwierigkeiten mein heutiges Quartier zu finden. Die angegebene Adresse stimmt leider nicht. Als ich dann im Navi nach der Gosciniec Legenda suche finde ich sie, aber noch einige Kilometer ostwärts von Wyszogrod. Dazu muss ich auf der vielbefahrenen N 62 fahren, was wieder nicht sonderlich angenehm ist. Dann erkenne ich schon von Ferne mein Ziel. Es handelt sich offensichtlich um eine Art Motel. Vor dem Motel steht ein ziemlich dunkler Geselle auf einem Sockel. Was es mit der Figur und auch mit dem Namen „Gosciniec Legenda“ auf sich hat, habe ich nicht herausbekommen.

Das Motel macht einen recht neuen aber auch zünftigen Eindruck. Ich werde freundlich von einer sehr jungen Dame empfangen, zu der sich dann eine nicht viel Ältere gesellt, die offensichtlich die Chefin ist. Die Kommunikation ist etwas schwierig, weil sie nur wenige Brocken englisch verstehen und ich noch weniger polnisch. Da ich aber über booking.com gebucht habe, ist mein Hauptbegehren nicht schwer zu erkennen. Ich bekomme einen Zimmerschlüssel und richte mich erst einmal in dem gemütlichen Zimmer ein. Den Abend verbringe ich dann in der zünftigen Gaststätte. Es gibt Pizza von einer Größe, die kaum zu bewältigen erscheint. Da es mir aber schwer fällt etwas stehen zu lassen, schaffe ich auch das, zumal sie hervorragend schmeckt. Dazu brauchte ich aber zwei Bier. Die Pizzen sind offensichtlich der Tatsache geschuldet, dass hier vor allem Fernfahrer einkehren und ein entsprechenden Hunger mitbringen. Ich kann mich nach dem Essen kaum noch rühren und schleiche mit schwerem Magen auf mein Zimmer zurück.

Tagesstrecke: 39,42 Km

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