3. Tag (12. September 2019): Von Hennigsdorf zum Brandenburger Tor

Heute morgen geht es gleich zum Frühstück zum Bäcker. Danach fahren wir wieder mit der U-Bahn nach Alt-Tegel und von dort mit der S-Bahn nach Hennigsdorf, von wo wir die letzte Etappe unserer Tour auf dem Berliner Mauer-Radweg starten. Noch etwa 50 km liegen vor uns. Von Hennigsdorf überqueren wir die Havel und es geht weiter auf einem Radweg entlang der Ruppiner Chaussee vorbei an Stolpe Süd. Kurz vor Heiligensee überqueren wir wieder die ehemalige Grenze und auf der Berliner Seite entlang der ehemaligen Mauer über die A 111. Etwas weiter nördlich lag die ehemalige Grenzübergangsstelle Stolpe, über die der Transitverkehr aus dem Norden nach West-Berlin fahren musste. Hinter der Autobahn geht es dann wieder auf die Brandenburger Seite und auf dem alten Postenweg entlang dem auf West-Berliner Seite gelegenen Ortsteil Frohnau. Hier ist eine erste größere Steigung zu bewältigen. Wir gelangen in die hügelige Moränenlandschaft im nordöstlichen Teil Berlins. Weiter geht es nun entlang der S-Bahn. Diese Strecke war zu Mauerzeiten stillgelegt, so dass man auf dem West-Berliner Bahndamm wandern und über die Grenzanlagen hinweg schauen konnte. Wir fahren dann unter der S-Bahn hindurch und auf der West-Berliner Seite an ihr entlang bis wir in die Invalidensiedlung gelangen.

Die hufeisenförmige Invalidensiedlung ließen die Nationalsozialisten ab 1937 als Nachfolgeeinrichtung für das nun als Militärärztliche Akademie genutzte Invalidenhaus an der heutigen Invalidenstraße errichten. Hier fanden im Ersten Weltkrieg versehrten Offiziere mit ihren Familien Unterbringung und Pflege. Die so Umgesiedelten waren wohl nicht sonderlich begeistert, dass sie aus dem Zentrum Berlins an den Stadtrand verlegt wurden. Über den Hauseingängen der 50 Backsteinhäuser befinden sich Relief- und Schriftschmuckarbeiten mit Jahreszahlen und Ortsnamen. Diese steinernen Hauszeichen beziehen sich auf die Schlachten der Schlesischen Kriege von 1740/42 und 1744/45 sowie des siebenjährigen Krieg (1756-63).

Am nördlichen Ausgang der Invalidensiedlung verlief wieder die Mauer und hier gelangen wir gleich zu der Stele für Marinetta Jirkowsky (1962-1980). Sie konnte mit ihrem Verlobten Falko V. und dessen Freund Peter W. am 22. November 1980 gegen 3.40 Uhr hier die Hinterlandmauer und den Signalzaun zwischen zwei Wachtürmen überwinden. Mit einer Leiter wollten sie auch die 3,60 Meter hohe Mauer überwinden. Zuerst kletterten die beiden Männer nach oben , zuletzt Marinetta. Falko V. zog sich auf die Mauerkrone empor und sprang in den Westen. Der Freund sprang nicht, weil er sah, dass Marinetta, die inzwischen auf der obersten Sprosse der Leiter stand, zu klein war, um die Mauerkrone zu erreichen. Als er sich bäuchlings auf die Mauer legte und ihr seine Hand reichte, fielen insgesamt 27 Schüsse und es wurde taghell. Reflexartig ließ Peter W. die Hand von Marinetta los und ließ sich selbst auf die Westseite der Mauer fallen. Marinetta Jirkowsky stürzte schwer verletzt von der Leiter und starb wenig später. Sie war eine der wenige Frauen, die die Flucht an der Berliner Mauer gewagt haben.

Freunde im Westberliner Frohnau stellten bald danach ein Gedenkkreuz für Marinetta Jirkowsky auf, das von einem westlichen Mitarbeiter der Stasi entfernt wurde. Der 20-jährige Todesschütze wurde 1995 zu einer Bewährungsstrafe von 15 Monaten verurteilt. Der Platz am nahegelegenen Kreisverkehr der B 96 in Hohen Neuendorf wurde nach der Wende nach Marinetta Jirkowsky benannt.

Am Ausgang von Hohen Neuendorf geht es in den Tegeler Forst. Zu welchen phantasievollen Kuriositäten der Mauerfall führen konnte, zeigt der hier bald erreichte Wachturm „Deutsche Waldjugend“, an dem wir staunend innehalten. Ein Lehrer aus Berlin und eine Lehrerin aus Brandenburg setzten sich schon kurz nach dem Mauerfall für den Erhalt des Grenzturmes ein. Unter tatkräftiger Mithilfe von Anwohnern, jungen Leuten und Naturinteressierten gelang es ihnen, nicht nur den Abriss des Turmes zu verhindern, sondern auch den Grenzstreifen mit über 80.000 Bäumen zu bepflanzen und um den Turm herum Biotope anzulegen. Dabei wurden sie auch von den umliegenden Schulen unterstützt. Für ihr Engagement bekamen die beiden Pädagogen aus Ost und West 1999 das Bundesverdienstkreuz. Ein Hinweisschild klärt auf: „Ein Turm zum Anfassen. Nach 10 Jahren ist der ehemalige Todesstreifen wieder eine Oase.“

Nach einer Schleife durch den Tegeler Forst, es ist hier übrigens der nördlichste Abschnitt des Berliner Mauer-Radweges, gelangen wir wieder auf die B 96 und radeln ein Stück auf einem Radweg entlang der Oranienburger Chaussee. In Hermsdorf biegen wir dann links ab und gelangen über die Veltheimststraße und die Alte Schildower Straße in das Naturschutzgebiet Tegeler Fließ, einem Bach, der aus einer eiszeitlichen Abflussrinne entstanden und von einer Sumpflandschaft umgeben ist. Der eiszeitliche Ursprung wird auch durch die hügelige Moränenlandschaft deutlich, so dass einige Höhen zu überwinden sind. Es führt hier allerdings ein gut ausgebauter Radweg hindurch. Die Aussichten von hier sind zum Teil sehr malerisch. Manchmal kann man sich kaum vorstellen, dass man durch Berlin fährt, manchmal hat man aber auch sehr reizvolle Blicke auf die Silhouette von Berlin am Horizont.

Nahe des Märkischen Viertels, neben der Gropiusstadt ein weiteres großes Neubaugebiet in Westteil Berlins, das 1963 und 1974 erbaut wurde, gelangen wir an die Trasse der sogenannten Heidekrautbahn, die seit 1901 die nördlich von Berlin gelegene Heide- und Seenlandschaft mit Berlin verbindet. Entlang dieser Trasse geht es nun auch mehrere Kilometer weit durch Kleingartenkolonien bis wir bei Wilhelmsruh an die S-Bahn gelangen, wo wir an einem etwas versteckt im hinteren Teil eines Supermarktes am Bahndamm gelegenen Döner eine Mittagspause einlegen. Von dort geht es weiter entlang der S-Bahn-Trasse und bald radeln wir wieder durch eine Kirschbaumallee, die darauf hindeutet, dass jetzt wohl ein recht wichtiger Ort angesteuert wird. Einige hundert Meter weiter stehen wir dann unter der Bösebrücke, über die die Bornholmer Straße führt, mit dem Grenzübergang auf der Brücke, an dem am 9. November 1989 die Grenze zuerst geöffnet wurde und tausende Ost-Berliner in den Westteil der Stadt strömten und die DDR-Grenzposten zum ersten Mal recht hilflos ausschauten. Alex und ich verweilen hier nicht lange. Bei meinem zweiten Besuch am 24. September schaue ich mir die Brücke aber dann genauer an und studiere auch die Tafeln am östlichen Brückenkopf, der heute den Namen Platz des 9. November trägt.

Weiter geht es nun über die Norweger Straße und hoch zur Rehmstraße und gleich wieder auf eine erst nach der Wende gebaute Fahrrad- und Fußgängerbrücke, die über die hier recht ausgedehnten Bahnanlagen des Bahnhofs Gesundbrunnen führt. Diese Brücke war für den Mauer-Radweg notwendig, weil man sonst wohl nur über einen relativ großen Umweg fern ab der ehemaligen Mauer auf einer Straße entlang hätte geführt werden können. Die Brücke führt auf die Schwedter Straße in den Ortsteil Prenzlau. Die Schwedter Straße lag früher im Sperrgebiet  und durfte nicht betreten bzw. befahren werden. Von ihr gehen die Kopenhagener, die Korsörer und die Gleimstraße ab. An die Korsörer kann ich mich wegen eines Besuchs bei einer damaligen Bekannten erinnern, die ich bei meinem Studienaufenthalt im Zentralen Staatsarchiv der DDR 1987 oder 1988 auf einer beschwerlichen S-Bahnfahrt von Potsdam zu meinem Jugendtouristhotel „Egon Schultz“ in Ost-Berlin kennengelernt hatte und die ich dann hier in der Korsörer Straße besucht habe. Sie wohnte in eine Wohngemeinschaft mit einer Studienkollegin zusammen im letzten Haus vor der Mauer. Es ist schon ein merkwürdiges Gefühl für mich, den Blick durch die Straße von damals mit dem heutigen zu vergleichen.

Von hier aus geht es nun geradeaus weiter vorbei an der erst nach der Wende errichteten Max-Schmeling-Halle, heute eine der größten Veranstaltungshallen der Hauptstadt und entlang der Rückseite des Friedrich-Ludwig-Jahn Sportparks, an dessen Rückseite man noch die Mauerreste betrachten kann. In diesem Stadion spielte einst der BFC Dynamo Berlin, der Lieblingsverein von Stasi-Chef Erich Mielke. Weil die Schiedsrichter diesen „MfS-Verein“ immer begünstigten, wurde der vielfache DDR-Meister – von 1979-1988 sogar ununterbrochen – vom Volksmund „Schiebermeister“ genannt. An der Strecke entlang der Mauer am Stadion entsteht der sogenannte Mauerpark, der eine Grünanlage mit Spielplätzen und Liegewiesen werden soll. Von hier gelangt man dann an das östliche Ende der Bernauer Straße.

Die etwa 1,5 km lange Bernauer Straße war ein sehr besonderes Teilstück an der Berliner Mauer. Sowohl die Straße als auch die beidseitigen Bürgersteige gehörten zum Westteil Berlins. Erst die Häuser auf der Ostseite lagen im Ostteil der Stadt. Die ehemalige Sozialministerin von Brandenburg, Regine Hildebrandt (1941-2001), die in der Bernauer Straße wohnte, hat das mal in ihrer gewohnt markanten Art auf den Punkt gebracht als sie sagte: „Wenn wa aus dem Fenster unserer Ost-Berliner Wohnung kiekten, war der Kopp im Westen und der Hintern im Osten“. Trat man also als Bewohner Ost-Berlins aus der Haustür, war man im Westen. Das stellte die Verantwortlichen in Ost-Berlin nach dem Mauerbau vor große Probleme, eröffnete aber in den ersten Wochen auch noch erhebliche Fluchtmöglichkeiten. Die Häuser wurden zwar bewacht, dennoch gelang es zunächst mehreren Fluchtwilligen von hinten in die Häuser und auf der anderen Seite in den Westen zu gelangen. Aber auch einige Bewohner der Häuser an der Bernauer Straße nutzten die noch vorhandenen Fluchtmöglichkeiten. Die Bilder von aus dem Fenster springenden Bewohnern, die unten von West-Berliner Feuerwehrmännern aufgefangen wurden, gingen um die Welt und sorgten dafür, die Unmenschlichkeit des Geschehens vor aller Welt zu dokumentieren.

Das ging natürlich nicht lange gut. Sämtliche Bewohner wurden schon bald zwangsevakuiert. Danach wurden die Fenster und Türen zur Westseite zugemauert und die Häuser bis auf das Erdgeschoss abgetragen. Die Fassaden dienten aber noch mehrere Jahre als vordere Sperrmauer. Später wurde dann auch hier die Betonmauer errichtet. Um die Welt ging auch das Foto der Flucht des Volkspolizisten Conrad Schumann, der am 15. August 1961, zwei Tage nach dem Mauerbau über eine Stacheldrahtrolle in den Westen sprang. Trotz der zunehmenden Sicherungen gab es mehrere erfolgreiche Versuche durch Tunnel unter der Bernauer Straße von Ost nach West zu fliehen. Letztes Gebäude direkt an der Mauer war die Versöhnungskirche, die den DDR-Behörden schon wegen ihres Namens suspekt und verhasst war. Sie wurde erst 1985 mit Zustimmung Manfred Stolpes, des damaligen Konsistorialpräsidenten der evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg, gesprengt.

Von den Tunnelbauten an der Bernauer Straße sind die bekanntesten der Tunnel 29 und er Tunnel 57. Diese Fluchttunnel wurden übrigens oft von Westberlin aus gegraben. Es hatte sich insbesondere im studentischen Milieu eine Fluchthelferinitiative gebildet, die solche Projekte plante und durchführte. Freilich entwickelte sich diese Fluchthilfe, je länger die Mauer bestand, immer mehr vom studentischen Idealismus der Anfangszeit weg zur einer mehr oder minder einträglichen Geschäftsquelle auch mit Tendenzen zum Ganoventum.

Die Geschichte des Tunnels 29, der von einer studentischen Fluchthilfegruppe im Frühjahr 1962 gebaut wurde, war Grundlage für den 2001 ausgestrahlten Fernsehfilm „Der Tunnel“. Am 14. und 15. September 1962 konnten hier 29 Personen durch den Tunnel fliehen. Während der Bauarbeiten kam es mehrfach zu Baustopps wegen Wassereinbrüchen. Dennoch kam es im Gegensatz zu vielen anderen Fluchttunneln hier nicht zu tödlichen Unfällen, Verletzungen oder Verhaftungen.

Viel dramatische verlief das Unternehmen des Tunnels 57. Von April bis Oktober 19654 gruben 35 Menschen den 145 Meter langen und in einer Tiefe von bis zu 12 Metern verlaufenden Tunnel. Er war der längste, tiefste und teuerste Fluchttunnel, der in Berlin gebaut wurde. Durch ihn konnten am 3. und 4. Oktober 57 Personen aus der DDR fliehen. Ursprünglich waren 120 Flüchtlinge geplant. Unter ihnen befand sich auch ein inoffizieller Mitarbeiter  des Ministeriums für Staatssicherheit, der diese Aktion verriet. So fanden am 4. Oktober gegen Mitternacht zwei zivilgekleidete Stasi-Mitarbeiter den Tunnel und informierten die Grenztruppen. Nachdem diese eintrafen, schoss einer der Fluchthelfer bei ihrem Rückzug in Richtung der bewaffneten Soldaten. Dabei wurde der Grenzsoldat Egon Schultz an der Schulter getroffen. Dabei ging er zu Boden und wurde beim Versuch aufzustehen von einer Salve aus den Waffen der Grenztruppen versehentlich erschossen. Dies kam aber erst nach der Wiedervereinigung ans Licht nach Analyse der Stasi-Akten ans Licht.

Von der DDR-Führung und den DDR-Medien wurde Egon Schultz daraufhin als Märtyrer und Opfer skrupelloser „Grenzverletzer“ stilisiert, der von „West-Berliner Terroristen“ ermordet worden sei. Auch der Schütze der Fluchthelfer glaubte bis zu seinem Tod in den 1980er Jahren, dass er Egon Schultz erschossen habe. Auch in der westlichen Presse fand der Tunnel Aufmerksamkeit. Im Stern wurde über den Tunnel berichtet man distanzierte sich aber von den Geschehnissen, obwohl man den Tunnelbau mitfinanziert hatte. Der größte Einzelbetrag von 30.000 DM kam übrigens aus einem Geheimfonds des Bundesministeriums für gesamtdeutsche Fragen, den die Bundesregierung zur Unterstützung der Fluchthilfe nutzte.

Nach dem Fall der Mauer blieb auf der östlichen Seite der Bernauer Straße ein etwa 50 Meter freier Streifen zurück, der die Grenze gebildet hatte. Nach langen und kontroversen Diskussionen wurde hier eine Gedenkstätte errichtet, die das Geschehen seit dem Mauerbau entlang des 1,5 km langen ehemaligen Grenzstreifens dokumentiert. So hat man den damaligen Mauerverlauf aus einer lockeren Reihe rostiger Stahlstangen sichtbar gemacht, die man überall passieren kann. Dies war wohl der Kompromiss, zwischen denjenigen, die die Mauer an der Bernauer Straße entsprechend eines Vorschlags von Willy Brandt als Denkmal stehen lassen wollten und denen, die die Forderung, die Mauer muss weg, auch sehr wörtlich durchgesetzt haben wollten. Zum Gedenken gehören nun die die Grundrisse der früheren Häuser, die mit Stahlschienen in den Boden eingelassen wurden, 120 Stahlplatten dokumentieren den Verlauf von etwa 10 Fluchttunneln, ein ovaler mit Holzbalken umgebener Lehmbau erinnert an den Ort der 1986 gesprengten Versöhnungskirche, deren Grundriss ebenfalls im Boden eingelassen ist, und auf 75 Metern Länge wurde auch ein Teil des Grenzstreifens als Gedenkstätte rekonstruiert in den von einer Aussichtsplattform des Dokumentationszentrum Einblick genommen werden kann.

Zwischen der Gartenstraße und der Gedenkstätte befindet sich eine Gedenkwand mit dem „Fenster des Gedenkens“. Es gleicht einer Urnengrabstätte, in deren Fächer Bilder der Mauertoten gezeigt werden. Schräg gegenüber vom Nordbahnhof am Ende der Bernauer Straße wurde ein Besucherzentrum errichtet, von dem aus Führungen organisiert werden. Man hat übrigens den Eindruck, dass auch die Gedenkstätte an der Bernauer Straße zu den meistbesuchten Sehenswürdigkeiten Berlins zählt. Jedenfalls wälzen sich hier täglich Massen von Touristen, Schulklassen und anderen Gruppen durch. Manche haben Tränen in den Augen und wenn man sich die Geschichten, die hier dokumentiert werden vergegenwärtigt, kann man gar nicht genug Freude darüber empfinden, dass dieses unmenschliche Bollwerk 1989 endlich beseitigt werden konnte. Insofern dient die Gedenkstätte tatsächlich auch der Erinnerung, die ohne sie sicher schon erheblich verblichener wäre.

Hier am Nordbahnhof begann man auch am 13. Juni 1990 mit dem offiziellen Abriss der Berliner Mauer. Von hier fahren wir dann durch die Gartenstraße, die an einer Seite der S-Bahntrasse entlang führt und daher nicht mit Wohnhäusern bebaut war. Auf dieser Seite stand dann die Mauer. Über ein Rondell geht es dann in die Liesenstraße. Hier passiert man dann den Kirchhof der St-Hedwigsgemeinde und den Französischen Friedhof, der wohl vor allem Grabstätte für die seit dem 17. Jahrhundert eingewanderten Hugenotten und ihren Nachkommen ist. Die Mauer verlief hier direkt über die Friedhöfe und viele Gräber wurden deshalb verlegt. Hier findet sich auch das Grab des Schriftstellers Theodor Fontane und seiner Frau. Zu DDR-Zeiten muss es direkt 20 Meter hinter der Mauer gelegen und kaum zugänglich gewesen sein. Das Grab wurde nach der Wende wohl neu und eher modern gestaltet und ist als Ehrengrab der Stadt Berlin ausgewiesen. Außerdem wurde unweit davon ein kleines Haus als Gedenkstätte für Theodor Fontane eingerichtet.

Direkt neben dem Grab Fontanes befindet sich übrigens das Grab des Dramatikers, Lyrikers, Erzählers und Essayisten Peter Hacks (1928-2003), dessen wichtigstes Werk „Ein Gespräch im Hause Stein über den abwesenden Herrn von Goethe“ war. Er gehört sicher zu den umstrittensten und widersprüchlichsten Persönlichkeiten des DDR-Kulturbetriebs. Besonders verübelte man ihm seine Verteidigung der Ausbürgerung Wolf Biermann in einem Artikel in der Weltbühne.

Von hier aus geht es dann ein kleines Stück entlang der Chausseestraße bis zur Boysenstraße an den Nordhafenkanal. Hier gelangt man an einen von modernen Gebäuden umgebenen und insofern etwas deplatziert wirkenden alten Wachturm. Er wurde von dem Bruder des ersten erschossenen Flüchtlings, Günter Litfin, zu einer Gedenkstätte umgebaut. Wie viele Berliner lebte Günter Litfin vor dem Mauerbau im Ostteil und arbeitete im Westteil. Am 13. August 1961 war er in Westberlin. Er glaubte, dass die Sperrung nur vorübergehend sei und fuhr in seine Wohnung nach Ost-Berlin zurück. Als er seinen Irrtum begriff, versuchte er am 24. August die Grenze am Humboldthafen zu überwinden, wobei er von DDR-Genzsoldaten erschossen wurde.

Kurz dahinter gelangen wir auf den 1748 eingeweihten Invalidenfriedhof. Mit seinen einst 3.000 Gräbern von Adligen und Militärs ist er ein 250-jähriges Abbild preußischer und deutscher Militärgeschichte. Um die Distanz zu Preußen zu dokumentieren, ließ die DDR fast alle Gräber entfernen, den Friedhof sperren und 1961 durch die Mauer teilen. Rund 90 Tonnen Grabsteine wurden durch die Jahre hinweg entfernt. Die Hinterlandmauer und der Kolonnenweg, auf dem der Radweg entlang führt, sind noch fast vollständig erhalten.Lediglich 230 Grabstellen waren nach dem Mauerfall noch vorhanden. Danach wurden viele der zerstörten Grabstätten ebenso wie große Teile der Friedhofsmauer zum Schifffahrtskanal wieder erneuert.

Aber nicht nur preußische Honoratioren liegen hier begraben. Auch Gestapo-Chef Reinhard Heydrich und andere Nazigrößen wurden hier bestattet. Ihre Grabsteine hatten die Alliierten bereits nach Kriegsende räumen lassen und dafür gesorgt, dass sie auch nicht wieder aufgestellt werden. Ins Auge fällt heute die von Kaiserin Auguste Viktoria gespendete Glocke der Gnadenkirche, die bei der Sprengung der Ruine 1967 gerettet werden konnte. Sie wurde 2013 in einem Glockenturm hier wieder aufgestellt.

Nun geht es über die Invalidenstraße zum Spreebogen. An ihm entlang geht es durch das postmoderne Regierungsviertel zwischen den Abgeordnetenhäusern, dem Paul-Löbe-Haus und dem Elisabeth-Lüders-Haus, unter einer Verbindungsbrücke hindurch. Auf der Luisenstraße geht es über die Spree und dann gleich wieder rechts entlang des Reichstagsufer zum Reichstag. Von hier ist es dann nur noch ein Katzensprung zum Brandenburger Tor, wo wir unsere Tour beenden.

Respekt an Alex. Die 180 Kilometer auf dem Sattel hat er, trotz wenig Fahrraderfahrung, wirklich toll gemeistert. Wir beschließen unsere Tour in der Gastronomiemeile des Berliner Hauptbahnhofs und mein Sohn ist erheblich vernünftiger als ich und gönnt sich nur einen Tee.

Ich räsoniere auch darüber, warum mich diese Tour doch mehr bewegt hat als viele andere. Sicher spielt auch die doch fassbare Menschenverachtung einerseits, aber auch die Hilflosigkeit des DDR-Regimes ihre Bürger für den Sozialismus zu gewinnen, die durch diese Mauer zu Ausdruck kam, eine Rolle. Hinzu kommt bei mir aber noch eine persönliche Erfahrung. Der Bau der Berliner Mauer ist das erste politische Ereignis, an das ich mich sehr konkret erinnern kann. Ich war sieben Jahre alt. Unsere Familie war damals in St. Englmar im vorderen Bayerischen Wald im Sommerurlaub. Als wir morgens zum Frühstück in der Pension kamen, saßen die meisten Gäste schon da, ein Fernseher lief und viele, vor allem Frauen, weinten oder hatten für mich ungewohnt Tränen in den Augen. Es war doch eine Zeit als Tränen zu zeigen eher ungewöhnlich war. Als ich meine Eltern flüsternd fragte, was denn los sei, antwortet mir meine Mutter, dass in Berlin eine Mauer gebaut werde. Auch sie kämpfte mit den Tränen. Ich verstand die Welt nicht mehr! Eine Mauer zu bauen, war für mich nun wirklich kein Grund, so zu heulen. Nach dem Frühstück erbarmte sich mein Vater, mir die Sache genauer zu erklären. Er erzählte, das Familien und Freunde je nachdem in welchem Ortsteil Berlins sie lebten, nicht mehr sich besuchen könnten oder nicht mehr nach Hause könnten. Das fand ich dann doch auch empörend und fand, dass Ulbricht, den mir mein Vater als den Übeltäter beschrieb, nun wirklich ein böser Mann sei.

Das ist meine kleine, ganz persönliche Geschichte des Berliner Mauerbaus, die mich auch über die Jahrzehnte danach geprägt hat und so empfinde ich es auch heute noch als Befreiung als die Mauer 1989 fiel. Sicher ist es kein Zufall, dass mich mein beruflicher Weg sehr bald in die neuen Bundesländer führte und, dass ich es heute noch als großartig empfinde, unkompliziert durch Osteuropa und wenn auch nicht ganz unkompliziert sogar durch Russland und dann sogar mit dem Fahrrad reisen zu können. Natürlich ist meine Erfahrung mit der Berliner Mauer nicht zu vergleichen, mit dem Schicksal der vor ihr unmittelbar betroffenen Menschen. Aber es ist meine Erfahrung, die sicher mit dazu beigetragen hat, dass ich den Fall der Mauer und die Wiedervereinigung als etwas betrachte, was unsere Welt verteidigenswert erscheinen lässt.

Tagesdaten: 50,23 Km

2 Kommentare

  • Heidemarie sagt:

    Lieber Wolfgang,
    als Berlinerin weiß ich natürlich Deinen Bericht ganz besonders zu schätzen und fand ihn sehr anregend, mich meinerseits mal an ein paar Stationen Deiner Reise zu begeben, die ich noch nicht kenne. Am Anfang der 3. Textes ist Dir ein kleiner Fehler unterlaufen. Natürlich seid Ihr von Hennigsdorf nicht nach Heiligendamm gefahren – das wäre auch sehr weit gewesen und hätte Euch von Berlin weggeführt – sondern nach Heiligensee!
    Herzlichen Gruß
    Heidemarie

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