Am Morgen gibt es ein fulminantes Frühstück in der Rezydencja. Der Chef des Hauses preist das georgische Brot an, was er von einem Bäcker bekommt, der ursprünglich hier im Haus sein Geschäft gehabt haben soll. Ich hoffe, ich habe das richtig verstanden. Er spricht einige Worte deutsch, weil er viele Jahre oft in Deutschland gewesen sei. Er habe dort Autos gekauft und verkauft. Aha! – denke ich. Aber: Ein Lump, wer Böses dabei denkt! Zum Schluss werde ich noch mit mehreren georgischen Broten beschenkt. Es sind mindestens 1,5 Kg. Ich weiß gar nicht, wann ich das alles essen soll und vor allem wo ich die Brote verstauen soll. Aber das Geschenk abzulehnen wäre natürlich auch unhöflich. So verstaue ich sie so gut es geht auf meinem Fahrrad. In einem Plastikbeutel scheinen sie ganz gut geschützt zu sein.
Dann geht es los. Das Wetter ist immer noch trübe und kalt und ich verspüre wenig Lust, mich doch noch mal in der Altstadt umzuschauen. Als ich an der Weichsel entlangfahre, kann ich sehen, dass sie inzwischen durch den Regen doch ziemliches Hochwasser bekommen hat. So sind einige Zufahrten zum Weichselufer wegen Hochwasser gesperrt und die Sperrschilder stehen schon fast unter Wasser. Leider bekomme ich aber nun die Weichsel wieder weniger zu Gesicht, weil auch die Nebenstraßen außer Sichtweite zum Fluss verlaufen. Erst nach etwa Zwei Dritteln der heutige Strecke bekomme ich den Fluss wieder zu sehen als ich über eine Autobrücke nach Annopol auf die andere Seite der Weichsel wechsle. Hier zeigt sich die Weichsel schon als gewaltiger Strom, nicht zuletzt weil einige Kilometer zuvor der San, auch einer der größten Flüsse in Polen, in die Weichsel gemündet ist.
Annopol wäre eigentlich keine erwähnenswerte Stadt, wenn nicht hier während der deutschen Besetzung Polens wieder schwere Verbrechen verübt worden wären. Annopol hatte 1939 über zwei Drittel jüdische Einwohner. Nach dem Überfall auf Polen wurde im Frühjahr 1940 in Annopol ein Arbeitslager geschaffen. Die Juden von Annopol wurden vor allem beim Bau einer Zufahrtstraße zu einer örtlichen Phosphorit-Grube eingesetzt. Später wurden die arbeitsfähigen Juden von Annopol teils in ein Arbeitslager in Gościeradów, 10 km östlich von Annopol, verbracht, teils in das Lager Janiszów, 7 km südlich von Annopol. Viele der in Janiszów Gefangenen konnten sich zunächst retten, als am 6. November 1942 jüdische Partisanen dieses Lager überfielen, 600 Juden befreiten und den Lagerkommandanten Peter Ignor, einen vielfachen Mörder, töteten. Doch 60 Juden, die in die Wälder flohen, wurden von Partisanen der Gwardia Ludowa ermordet. Im Oktober 1943 wurde das Arbeitslager aufgelöst. Die bis dahin dort verbliebenen Juden wurden selektiert. Alte und Kranke wurden an Ort und Stelle ermordet, noch Arbeitsfähige wurden in das Arbeitslager in Budzyń bei Kraśnik verbracht. Im Zuge der Massenmorde der an Zynismus kaum zu überbietenden Bezeichnung „Aktion Erntefest“ wurden am 3. November 1943 auch in Annopol jüdische Zwangsarbeiter ermordet. Unter den 630 Opfern waren vor allem Juden aus Deutschland und Österreich. Sie wurden in Massengräbern verscharrt. Im Massaker von Borów, das rund 8 Kilometer südöstlich von Annopol liegt, wurde die Gegend um das Dorf Borów bei Janiszów am 2. Februar 1944 von deutschen Militäreinheiten zerstört, die über 900 Einwohner ermordeten. Soviel zur zur lange Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg gepflegten Legende von der Unbeflecktheit der Deutschen Wehrmacht von den Verbrechen der Nationalsozialisten.
Immer wieder wird man in Polen mit dem dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte konfrontiert. Dabei ist es auch immer wieder erstaunlich wie wenig revanchistisch und wie sachlich zumindest die polnische Zivilgesellschaft mit der Erinnerung an diese Ereignisse umgeht. Ich hatte auch nie den Eindruck, dass die Polen besondere Vorbehalte gegenüber den Deutschen haben, was ja durchaus verständlich wäre. Letztlich kann ich es natürlich nicht beurteilen, weil meine Sprachbarriere diesbezüglich Gespräche mit Polen nicht möglich machte.
Von Annopol ging es auf der rechten Seite der Weichsel nun die restlichen 20 Kilometer bis nach Jozefow nad Wisla, wo ich für eine Nacht im Hotel Bursztynowy gebucht hatte. Leider war mein Zimmer zunächst recht ausgekühlt. Als ich darauf hinwies erklärte man mir zunächst, dass die Heizsaison noch nicht angefangen habe. Die Frau des Besitzers oder Managers hatte dann aber Wohl ein Einsehen mit mir und organisierte ein Heizventilator, der es mir ermöglichte, das Zimmer doch recht angenehm aufzuwärmen. Da die Gegend wirklich nichts zu bieten hatte, es nach wie vor kalt, trüb und regnerisch war, verbrachte ich den Rest des Tages im Hotelzimmer mit Lesen. Abends nahm ich im Hotelrestaurant ein Essen ein.
Tagesstrecke: 56,71 Km