10. Tag: (18. März 2024): Von Chartes nach Nogent-le-Rotrou

Tagesstrecke: 76,2 Km; 12,7 Km/h; 510 Hm

Gut geschlafen und wieder ein sehr ordentliches Frühstück sind immer ein guter Tagesbeginn. Heute liegt mit etwa 75 Kilometern eine längere Strecke vor mir. So mach ich mich um kurz nach 9 Uhr auf den Weg. Das Wetter ist sehr schön, zwar wolkig aber die Sonne scheint. Das wird nur einmal durch einen leichten Schauer getrübt. Nachmittags kann ich mir dann sogar die Jacke zum ersten Mal auf dieser Tour ausziehen. Da ich heute kein festgelegtes Zeitziel habe, habe ich mir einige andere Zwischenziele ausgesucht, bei denen ich mal kurze Stopps einlegen will. Doch zunächst berausche ich mich noch einmal auf die wunderschönen Blick auf die Kathedrale vom Ufer der Eure aus.

Danach geht es ziemlich eben weiter, allerdings wird sich die Landschaftsfläche im Laufe des Tages immer wieder verändern. Die letzten 25 Kilometer werden dann stark hügelig oder leicht bergig und dabei geht es mehrmals auf und ab. Dieses Landschaftsbild zeichnet die Landschaft le Perche aus.  Le Perche ist ein Hügelland, dessen höchste Erhebung eine Höhe von nur 301 m erreicht; die durchschnittliche Höhe der Orte liegt bei ca. 150 m. Das Gebiet des Perche war früher ein Waldland (Sylva Pertica); heute ist es hauptsächlich ein durch Hecken (bocage) strukturiertes Weidewirtschaftsgebiet, bei der die früher bedeutende Pferdezucht (siehe Percheron-Pferd) mittlerweile durch Milchwirtschaft und Schweinezucht abgelöst wurde. Eine Industrialisierung fand nicht statt. Heute sind große Teile des Perche im Regionalen Naturpark Perche integriert. Der Perche beruht in der Hauptsache auf der Wirtschaftskraft der in den zahlreichen Dörfern lebenden Landwirte; Hauptorte des Perche sind mein heutiges Ziel Nogent-le-Rotrou (ca. 10.000) aber auch  Mortagne-au-Perche (ca. 4000) und Bellême (ca. 1500). Wichtigste Flüsse sind die Eure, der Huisne, ein Nebenfluss der Sarthe, und die Même.

Der höchste Punkt liegt heute 120 Meter über dem Ausgangspunkt. Mein erstes Ziel ist nach etwa 16 Kilometern das Schloss Boulard, das leider verschlossen und dadurch auch nicht zu sehen ist. Da es keine große Geschichte hat, allerdings die Familie Boulard es nicht dem Verfall preisgeben möchte, wird daraus vielleicht irgendwann ein Hotel entstehen.

Nach etwa 21 Kilometern erreiche ich mein nächstes Zwischenziel, die Kirche Saint-Orien et Saint-Blaise in Meslay-le-Grenet. Sie ist zwar nicht direkt verschlossen, aber nachdem man sich darüber freut, dass die Eingangstür nicht verschlossen ist, steht man vor einer verschlossenen Glastür, aus Sicherheitsgründen wie ich einem Aushang mit Hilfe meiner Übersetzer-App entnehmen kann. So bleibt nur der Blick durch die Glastür. Allerdings darf man auch noch das Licht einschalten, was etwas hilft. Die Wände des Kirchenschiffs der Kirche Saint-Orien sind mit Gemälden aus dem 15. Jahrhundert geschmückt, die überraschend gut erhalten sind. Sie stellen einen Totentanz dar und symbolisieren die Konfrontation zwischen Mensch und Tod. Die Gemälde sind schon recht eindrucksvoll, auch wenn man mit den Fotos nur wenig davon deutlich erkennen kann. Interessant ist auch die für mich in dieser Form bisher unbekannte gekrümmte Balkendecke, die aber für diese Gegend offensichtlich typisch ist wie ich noch sehen werde.

Dann geht es nach Illers-Combray, wo ich nach etwa 36 Kilometern ankomme und auch meine Mittagspause einlege. Nun wende ich mich an die Literaturwissenschaftler(innen) und die Literaturinteressierten und frage sie, was ihnen dieser Ort sagt. Ich bin gespannt. Morgen oder übermorgen schreibe ich dann noch etwas dazu. Mögliche Kommentare oder Antworten werde ich dann natürlich auch veröffentlichen.

Wie gesagt lege ich in dem Ort auch meine Mittagspause ein. Viel los ist hier allerdings nicht. Geöffnet ist nur der Rapid Market, wo ich mich mit einem halben Bagutte und einigen Minisalamis ausstatte. Ich geselle mich dann zu einem Jungen der als Bronzestatue auf eine Bank sitzt und hier als Kind seine Ferien verbracht hat. Während ich so da sitze kommt nach einiger Zeit eine junge Frau mit einem Rennrad angefahren und will hier auch offensichtlich Pause machen. Nach einiger Zeit kommen wir ins Gespräch und verständigen uns auf Englisch, was wir beide schlecht können, was aber bekanntlich für solche Gespräche ganz hilfreich ist. Auch Julie, wie die junge Frau heißt, ist auf dem Weg nach Mont-Saint-Michel und fährt den Veloscenie. Sie ist die erste Tourenradlerin, die mir begegnet. Beeindruckend ist wie wenig Gepäck sie bei sich hat, was ja für Rennradreisende und sogenannte Gravelbiker nichts Außergewöhnliches ist. Noch mehr beeindruckt bin ich dann als sie mir erzählt dass sie heute schon von Rambouillet kommt und damit jetzt um 13 Uhr nach meiner Rechnung schon 90 Kilometer zurückgelegt hat und da sie auch Nogent-le-Rotrou als heutiges Ziel hat, sie noch 40 Kilometer vor sich hat.

Wir trinken dann noch einen Kaffee in der einzigen offenen Bar und ich verabschiede mich, da ich noch mit vier bis fünf Stunden rechne, bis ich mein heutiges Ziel erreiche. Vorher werfe ich noch einmal einen Blick in die Kirche des Ortes. Auch diese Kirche Saint-Jacques ist mit gewölbten und bemalter Holzbalkendecke aus dem 16. Jahrhundert sehr sehenswert. Neben floralen und ornamentalen Motiven sind die Apostel unter gemalten Baldachinen im Flamboyant-Stil dargestellt, was man aber nicht zuletzt wegen der Höhe der Kirche von unten kaum erkennen kann.

Nach etwa fünf Kilometern hat mich Julie dann eingeholt und wir verabschieden uns noch einmal im Vorbeifahren. Sie hat schon wirklich ein gutes Tempo drauf. Mein nächstes Zwischenziel wäre Kirche von Montigny gewesen. Ich lasse sie aber rechts liegen, weil ich schon genügend Kirchen heute gesehen habe. Die Kirche wurde im 12. Jahrhundert erbaut und soll ein schönes Beispiel romanischer Architektur. Sie wurde im Laufe der Jahre mehrfach renoviert, darunter der Anbau eines Glockenturms im 16. Jahrhundert und die Restaurierung des Kirchenschiffs im 19. Jahrhundert. Die Kirche beherbergt mehrere wunderschöne Buntglasfenster, darunter eines, das den Heiligen Martin, den Schutzpatron von Montigny-le-Chartif, darstellt. Also alles nichts Besonderes.

Nach etwa 50 Kilometern komme ich dann nach Frazé. Das Schloss Frazé zeichnet sich vor allem durch seine Außenfassaden im französischen Stil aus. Das Schloss soll vor allem deshalb interessant sein, dass es zwar eine mittelalterlich Wehrburg mit trockenen Wassergräben, Pechnasen, Zugbrücke ist, die aber geschmückt mit extravaganter und üppiger gotischer Dekoration aufwartet. Leider ist auch dieses Schloss heute geschlossen, so dass ich nur von der Außenansicht erahnen kann, was gemeint ist.

Eigentlich will ich nun weiterfahren nach Nogent-le-Rotrou, aber schon nach nur etwa zwei Kilometern werde ich in La Croix-du-Perche von einer älteren zahnlosen Frau, also etwa so mein Alter, angesprochen und an ihren Gesten erkenne ich, dass sie mich in die Kirche lotsen will. Ich nehme an sie ist so etwas wie eine Küsterin. Erst will ich ablehnen, lasse mich aber dann breit schlagen und stelle mein Fahrrad ab und folge ihr in die Kirche. Da wir uns sprachlich nicht verständigen können, hält sie mir auch keine Vorträge, sondern deutet nur mit der Hand auf die Dinge, die sie für erwähnenswert hält. Die Kirche ist tatsächlich sehenswert. Die ursprünglich romanische, später jedoch veränderte Pfarrkirche ist dem hl. Martin von Tours geweiht, der auch als Skulptur seitlich des Lettner-Altars über der linken Tür steht. Die Mauern des Kirchenschiffs und sein wirklich sehr schön bemaltes Holzgewölbe mit Zugankern stammen aus einer Umbaumaßnahme des 15./16. Jahrhundert; die Kirchenfenster wurden damals ebenfalls gotisiert. Schmuckstück des Kirchenschiffs sind die ornamentalen Malereien aus dem Jahr 1537 auf dem hölzernen Gewölbe, welches durch in Teilen beschnitzte Zuganker seitlich stabilisiert wird. Der einfache, mit einem Altarbild versehene Lettner stammt aus dem 17. oder 18. Jahrhundert; zwei Türen führen in die dahinter liegende Sakristei. Ich betrachte alles genauer, lehne aber die angebotenen Ansichtskarten ab, weil ich sie mindestens genauso gut fotografiert habe und verabschiede mich dafür mit einer Spende zum Erhalt der Kirche.

Dann geht es nun auf die letzten 25 Kilometer in die Perche und hier geht es nun auf und ab. In dem Ort Thiron-Gardais werde ich noch auf eine alte Benediktinerabtei aufmerksam, die das Dorf noch heute prägt. In dem Dorf muss ich dann das einzige Mal heute schieben, weil die Steigung über 10 Prozent hat und das mit 25 Kg Gepäck für mich nicht zu bewältigen ist.

Gegen 17:30 Uhr komme ich dann in meiner heutigen Unterkunft an, die heute eine private ist. Ich habe sozusagen ein kleines zweistöckiges angebautes Häuschen für mich. Ich vermute, dass hier mal Elternteile meiner Vermieter gelebt haben. Für mich ist alles vorbereitet. Sogar ein Bier steht auf dem Tisch. Meine Vermieterin ist nämlich bei meiner Ankunft noch nicht da. Das war aber auch so schon angekündigt. Sie konnte wohl erst gegen 20 Uhr aus Paris zurückkommen. Nachdem ich mich eingerichtet habe, fahre ich noch einmal in die Stadt. Auf dem Weg dahin mache ich Station bei dem eindrucksvollen Chateau und erlebe sogar den Sonnenuntergang mit Schloss. In der Stadt finde einen sehr schönen Italiener, bei dem ich mich nach der anstrengenden Fahrt mit einer vorzüglichen Pizza belohne. Leider quält mich zunehmend eine Erkältung und ich hoffe, dass es nicht schlimmer wird.

Nogent-le-Rotrou ist übrigens auf zwei Ebenen gebaut. Die eigentliche Stadt liegt im Tal, und dann gibt es noch einen Stadtteil der auf dem Plateau liegt. Er heißt wohl Plateau Saint-Jean.  Dort ist auch meine Unterkunft. Insofern muss ich 50 Höhenmeter nach unten, um in die Stadt zu fahren und 50 Höhenmeter um wieder hochzukommen. Das reicht dann auch für heute.

Als ich wieder zurückkomme ist meine Vermieterin auch eingetroffen. Wie sich herausstellt lebt sie hier inzwischen alleine, weil ihr Mann vor zwei Jahren verstorben ist. Sie ist sehr freundlich, auch wenn die sprachliche Verständigung schwierig ist. Ich spreche weder französisch noch polnisch und sie spricht weder englisch noch deutsch. Madame Krzanowski kommt nämlich ursprünglich aus Polen und ist in Nysa geboren, dem früheren Neisse. Sie lebt aber schon seit 50 Jahren in Frankreich. Ich schätze sie so auf mein Alter.

 

 

 

2 Kommentare

  • Reinhard Wasner sagt:

    Unglaublich detaillierte Beschreibung deiner Tagestour! Ich hole meine Karte von Nordfrankreich raus und versuche deine Route zu verfolgen. Mein Freund, gönne dir mehr Ruhe, reize nicht deine Erkältung. Diese herrliche Landschaft läuft dir nicht davon. Viele Grüße Reinhard.

  • Heidemarie sagt:

    Der Junge auf der Bank in Illiers-Combray, neben dem Du so gemütlich sitzt, heißt Marcel und hat die französische Literatur mit einem monumentalen Werk bereichert, eines der bedeutendsten der europäischen Moderne und ein grandioses Gemälde der französischen Gesellschaft des Fin de Siécle. Dass Illiers sich heute Illiers-Combray nennt, ist eine Danksagung an Marcel Proust, der den Geburtsort seines Vaters von Ferienaufenthalten kannte und ihn unter dem Namen Combray zum Kindheitsort des Erzählers in „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ machte. Zur Dankbarkeit hatten die Leute aus Illiers allen Grund, denn die Beziehung zu Proust ist sicher dem Tourismus förderlich. Wer hierher kommt, sollte mal eine „Madeleine“ (französisches muschelförmiges Bisquitgebäck) in Kamillentee tunken, denn mit der Wiederholung dieser kindlichen Gewohnheit hat der Ich- Erzähler im Roman den Strom der Erinnerung ausgelöst – und was für einen Strom!

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